Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
technologisch geprägten Welt, dass diese sogar mit dem Titel Weltrisikogesellschaftbelegt wurde (Beck 2007). Wie sind die Risiken und Chancen technologischer Entwicklungen gegeneinander abzuwägen? In welchen Fällen ist ein vorsorgliches Eingreifen geboten? Diese Problemstellungen wurden in der internationalen Diskussion mit der Einführung des Vorsichtsprinzips
(precautionary principle)
beantwortet, das im Deutschen häufig, wenn auch irreführend, als Vorsorgeprinzip bezeichnet wird. Es ist für eine Ethik der Zukunftsverantwortung unerlässlich, sich über die Tragfähigkeit und die Reichweite dieses Konzepts Klarheit zu verschaffen (vgl. Huber, Fukushima 2012).
Beim Vorsichtsprinzip geht es um eine besondere Form der Vermeidung von Gefahren. Es gehört zu den elementaren menschlichen Pflichten, Gefährdungen für sich und für andere abzuwehren. Es handelt sich dabei um eine Reaktion, die in der Instinktausstattung der Menschen angelegt ist. Doch diese Reaktionsweise scheint sich auf unmittelbar drohende Gefahren zu beschränken. Solche, die erst in einer weiteren Zukunft zu befürchten sind, nehmen die meisten Menschen auch dann weit weniger ernst, wenn sie selbst davon betroffen sein können. Die möglichen Auswirkungen auf andere erhöhen den instinktiven Impuls zur Abwehr solcher Gefahren nicht. Am Rauchen oder am Autofahren nach Alkoholgenuss lässt sich das verdeutlichen. Schon für solche Gefahren im Nahbereich können sich Menschen nicht auf ihre Instinkte verlassen, sondern müssen eine ethische Orientierungssicherheit entwickeln. Noch viel mehr gilt das für schädliche Auswirkungen technologischer Entwicklungen, die sich erst in der Zukunft – unter Umständen sogar erst in einer weit entfernten – zeigen. Das übersteigt nicht nur die Möglichkeiten einer instinktgesteuerten Reaktion, sondern auch die Kategorien der traditionellen Ethik. Um dieses Defizit auszugleichen, wurde das Vorsichtsprinzip entwickelt. Es verpflichtet dazu, künftige Risiken in die Entscheidung über anstehende Handlungen einzubeziehen. Die rechtzeitige Vermeidung künftiger Schäden gilt auch dann als Pflicht, wenn es über deren Eintreten keine letzte Gewissheit gibt.
Die moderne Technologie verführt dazu, der Natur mehr Rohstoffe zu entnehmen, als in ihr nachwachsen, sie mit mehr Abfällen zu belasten, als sie abzubauen vermag, Technologien zu verwenden, die unter Umständen mit hohen Risiken verbunden sind, oder Treibhausgase in die Atmosphäre zu emittieren, die einen gefährlichen Klimawandel zur Folge haben. Angesichts der Schäden, die Menschen einander oder derBiosphäre durch die Möglichkeiten moderner Technologie zufügen können, hat Hans Jonas in seiner Ethik für das technologische Zeitalter das Gebot, nicht zu töten, oder allgemeiner: kein Übel zuzufügen, in die Zukunft hinein ausgedehnt.
Der Imperativ, so zu handeln, dass die Wirkungen des eigenen Handelns mit der Permanenz echten menschlichen Lebens vereinbar sind, schließt die Verpflichtung ein, die (möglichen) Wirkungen gegenwärtiger Handlungen in der Zukunft zu antizipieren. Das ist jedoch nur möglich, wenn man sich einer Heuristik der Furcht bedient. Es genügt nicht, die Aufmerksamkeit auf mögliche positive Wirkungen neuer technologischer Entwicklungen zu lenken, sondern man muss auch ihre negativen Auswirkungen bedenken. Wegen der Verantwortung für die Erhaltung des Lebens plädiert Hans Jonas sogar für einen Vorrang der schlechten vor der guten Prognose. Die Wahrnehmungsfähigkeit für das, was vermieden werden muss, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, mögliche negative Auswirkungen rechtzeitig genug zu bedenken (Jonas 1979: 70ff.).
Wenige Jahre nach dem «Prinzip Verantwortung» von Hans Jonas wurde das
precautionary principle
explizit formuliert. Auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 fand es Eingang in die Deklaration über Umwelt und Entwicklung. Deren Prinzip 15 heißt: «Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Grundsatz der Vorsicht an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.» Im selben Jahr fand das Vorsichtsprinzip auch Eingang in den Maastricht-Vertrag, der die Arbeitsweise der Organe der Europäischen Union regelte. Er verband das Vorsichtsprinzip mit dem Verursacherprinzip, das dem Urheber
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