Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
finden. Nicht immer wird sich diese Pflicht so wahrnehmen lassen, dass die Jüngeren ihren eigenen Lebensplan um der Älteren willen umstellen. Es gibt darüber hinaus Situationen, denen nur professionelle Pflegerinnen und Pfleger gewachsen sind.
Die räumliche Entfernung, berufliche Pflichten oder familiäre Aufgaben schließen oft eine ausreichende direkte Unterstützung aus. In Deutschland hat in wenigen Jahren der Wohnungsabstand zwischen den Generationen erheblich zugenommen, der Umfang der wechselseitigen Unterstützung ist entsprechend zurückgegangen. Viele nehmen jedochauch über große Entfernungen hinweg regelmäßig am Leben der Elterngeneration Anteil. Sie zeigen dadurch: Die veränderten Lebensumstände lassen die grundsätzliche Verpflichtung, Verantwortung nicht nur für die folgende, sondern auch für die vorangehende Generation zu übernehmen, unberührt.
Die Formen, in denen dies geschieht, wandeln sich von Generation zu Generation. Die Fälle, in denen Eltern- und Großelterngeneration zusammen in einem Haus oder an einem Ort wohnen, werden seltener. Soweit private Pflege ganz oder teilweise möglich ist, verändert sie ihr Gesicht. Heute übernehmen Männer in etwas höherem Maß als früher pflegerische Verpflichtungen. Die Beteiligung von Nachbarn, Freunden oder Bekannten an solchen Aufgaben wird größer, informelle Netzwerke und «kleine Lebenskreise» (vgl. oben S. 35) gewinnen dafür an Bedeutung. Die wechselseitige Unterstützung innerhalb derselben Generation nimmt neue Formen an. Schließlich verändert sich die Rolle der Kinder und Schwiegerkinder; weil sie oft nicht selbst helfen können, kümmern sie sich verstärkt darum, Hilfe zu organisieren.
Private und professionelle Pflege ergänzen sich in vielen Fällen. Das gilt nicht nur dort, wo ambulante Pflegedienste alten Menschen ermöglichen, weiterhin in der eigenen Wohnung zu bleiben. Auch wenn ältere Menschen in einem Seniorenwohnheim, im Betreuten Wohnen oder in einem Pflegeheim sind, brauchen sie neben der dort geleisteten Unterstützung die Begleitung durch Angehörige, Bekannte oder ehrenamtliche Besuchsdienste. Ein kostengünstiges Wohnheim in einem fernen, beispielsweise ostasiatischen Land mag landschaftlich noch so reizvoll liegen – der Wunsch eines älteren Menschen nach lebendigen Beziehungen wird an solchen Orten häufig unerfüllt bleiben. Gerade im Alter zeigt sich, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist; seine Vitalität hängt sehr davon ab, ob er Verbindungen zu anderen Menschen, insbesondere zu jüngeren, hat. Auch die Pflege ist als ein Beziehungsgeschehen zu verstehen und zu gestalten; für den Austausch mit den Pflegebedürftigen muss ausreichend Zeit sein. Pflege als Beruf braucht gesellschaftliche Wertschätzung und angemessene Bezahlung.
Leben mit dem «Methusalem-Komplott»
Mit den Veränderungen in der Altersstruktur wird der generalisierte Generationenvertrag in Frage gestellt. In Deutschland und vergleichbaren Ländern ist dieser Alterswandel durch das Phänomen des
double aging
geprägt (vgl. oben S. 185). Dank der Fortschritte von Medizin, Hygiene, Arbeitsschutz und Umweltbedingungen werden die Menschen im statistischen Durchschnitt älter, und angesichts einer abnehmenden Geburtenrate altert die Gesellschaft im Ganzen. Dieser doppelte Alterungsprozess verschärft die Anforderungen an die nachrückende wie erst recht an die künftigen Generationen (vgl. Kapitel 18).
Viele befürchten, dass die Versorgungslasten für die Älteren die mittlere Generation überfordern werden. Sie haben mit Frank Schirrmacher Angst vor einem «Methusalem-Komplott» (Schirrmacher 2004). Doch als Symbol für einen Herrschaftsanspruch, den die Alten gegenüber den Jungen erheben, taugt die biblische Gestalt des 969 Jahre alten Methusalem nicht.
Die Probleme, die sich aus dem demographischen Wandel für die Versorgung der Älteren ergeben, lassen sich auch nicht einfach aus einem solchen Herrschaftsanspruch ableiten. Die durch zurückliegende Entscheidungen begründeten Versorgungsverpflichtungen erzeugen wachsende Belastungen für die Jüngeren. Ein zentraler politischer Konflikt geht darum, in welchem Maß deren Sozialversicherungsbeiträge angehoben werden können und in welchem Maß die Versorgungsansprüche gesenkt werden müssen. Für die Entwicklung öffentlicher Haushalte sind die indirekten Schulden, die sich aus künftigen Versorgungsverpflichtungen herleiten, eine vergleichbare Belastung wie die direkten
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