Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Bedeutung, wenn die körperliche und geistige Beweglichkeit zurückgeht und die Fähigkeit, das Leben selbständig zu meistern, schwindet. Gerade wenn sich dadurch Selbstzweifel ausbreiten, ist die Verbindung mit anderen besonders wichtig.
Im Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten eigenständiger und kreativer Gestaltung des Alters ist es durchaus angebracht, den Begriff des «Talents» auch auf diese Lebensphase anzuwenden (siehe oben S. 84ff.) und deren schöpferische Möglichkeiten genauso ernst zu nehmen wie die mit ihr verbundenen Begrenzungen.
Demenz als Grenzerfahrung
Eine solche positive Betrachtungsweise kann auch dann noch helfen, wenn die Kräfte alter Menschen sichtbar schwinden und Krankheiten ihr Leben bestimmen, denn in dieser Lebensphase gibt es immer noch Kompetenzen, die wachzurufen oder lebendig zu halten sind. Demenzkranke können noch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Erkrankungdifferenziert auf bestimmte soziale Situationen reagieren oder Ereignisse auf eine überraschende Weise kommentieren. Besonders schmerzlich ist es, wenn dies unbemerkt bleibt, weil niemand mehr mit einer solchen Fähigkeit rechnet. Lebenskräfte können dagegen noch über einen längeren Zeitraum bewahrt werden, wenn Demenzkranke in den ihnen gesetzten Grenzen zu eigenständiger Aktivität ermutigt werden und ihnen dafür ein geschützter Raum angeboten wird (Deutscher Ethikrat, Demenz 2012: 53ff.).
Solche Bemühungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Demenzerkrankungen in die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen so tief eingreifen können, dass es kaum noch möglich erscheint, im Gespräch seinem Selbst auf die Spur zu kommen. Solche Enttäuschungen stellen sich vor allem dann ein, wenn der Kranke seine Gesprächspartnerin oder seinen Gesprächspartner nicht mehr erkennt. Auf schmerzliche Weise kann dann der Eindruck entstehen, dass der Kranke, um dessen Betreuung man sich bemüht, mit dem Menschen, den man liebte, nicht identisch ist; doch auch dann kann die Gewissheit tragen, sich miteinander verbunden zu haben, «bis der Tod euch scheidet» (Jens 2009: 291).
Neben der Erinnerung an die gemeinsame Geschichte kann die Hoffnung helfen, bei Gott auch dann zusammenzugehören, wenn man sich unter den Bedingungen der Krankheit gar nicht mehr oder kaum noch erreicht. Plötzlich, so wird es immer wieder berichtet, «erblickt man in den Augen eine Brücke des dankbaren Verstehens. Wie schön sind die Augen von Dementen, die aufleuchten! Auch im Lachen verbinden sich die ‹Gesunden› mit den ‹Kranken›, weil für einen Augenblick sich die Wirklichkeit beider trifft.» (EKD, Demenz 2008: 43)
20. Sterben
Wann ist es Zeit für den Tod?
Im September 2010 nahmen sich der Manager Eberhard von Brauchitsch und seine Frau, die Ärztin Helga von Brauchitsch, das Leben. Ein halbes Jahr später erschoss sich der Fotograf und Kunstsammler Gunter Sachs. Das Ehepaar Brauchitsch unternahm diesen Schritt nach langer Krankheit; er litt an einem Lungenemphysem, sie an Parkinson. Gunter Sachs wollte nicht akzeptieren, dass er im Gespräch langsamer wurde als früher; er fürchtete, nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben. Die Selbstdiagnose lautete: Alzheimer. Bevor er Einschränkungen akzeptierte, setzte er selbst das Ende.
Vor dem Tod verstummt alle Kritik. Keiner kann voraussehen, was ihm selbst an der Grenze des Lebens widerfahren wird. Die Ungewissheit der eigenen Zukunft mahnt zur Vorsicht. Doch wer sich selbst tötet, appelliert damit auch an die Lebenden. Welchen Appell enthält ein zerfetzter Körper? Wem wurde dieser Anblick zugemutet und warum? Entsprach das der Würde, die der Tote doch bis zuletzt wahren wollte?
Unabhängig davon, wie Gunter Sachs aus dem Leben schied – jeder Mensch ist einzigartig und verdient Respekt. Viele Menschen reagierten deshalb mit Verständnis auf die Todesnachricht. Zugleich erinnerte dieser Tod an eine Grundfrage, der sich jeder stellen muss: Verstehe ich mein Leben als Geschenk, das mir anvertraut ist, oder als Besitz, über den ich verfüge? Akzeptiere ich, dass nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben seine Zeit hat – oder soll die Kontrolle so weit gehen, dass ich auch über den Zeitpunkt meines Todes bestimme?
Sterben und Tod
Alle Lebewesen müssen sterben, aber der Mensch ist das Lebewesen, das weiß, dass es sterben muss. Deshalb können wir Menschen uns mit unserem Tod auseinandersetzen. Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Tod besteht darin,
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