Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
Vom Netzwerk:
behalten.
    Wenn allgemein bekannt wäre, dass dies die ärztliche Haltung ist, würden manche erhitzten Debatten über eine standesrechtliche Anerkennungdes ärztlich assistierten Suizids möglicherweise verstummen. Zu diesen Debatten hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau unter Berufung auf einen Arzt gesagt: «Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet.» (Rau 2001: 27f.) Wenn am Zusammenklang von Vernunft, Humanität und Nächstenliebe ein lebendiges Interesse besteht, sollte es dahin nicht kommen.
    Der Zweifel daran, dass dem Sterben seine Zeit eingeräumt wird, hat die Debatte über Patientenverfügungen, verschiedene Formen der Sterbehilfe und insbesondere den assistierten Suizid aufgeheizt (vgl. Ridder 2010). Wichtiger als solche Debatten ist jedoch die Vorsorge dafür, dass Sterbende nicht allein sind. Menschen sind aufeinander angewiesen – am Ende des Lebens ebenso wie an dessen Beginn, aber auch in dessen Verlauf. Jeder Mensch braucht die Beziehung zu anderen bis zum letzten Atemzug. Die vorsorgende Bitte an einen anderen Menschen, als Vertrauensperson ansprechbar zu sein, wenn man sich nicht mehr selbst äußern kann, ist ein wichtiger Beitrag dazu, ein nach Möglichkeit würdiges Sterben vorzubereiten. Die Vereinsamung Alter und Kranker aber gefährdet ein menschenwürdiges Sterben. Angesichts von Sterben und Tod wiegt nicht die Tendenz zur medizinischen Überversorgung am schwersten, sondern die Einsamkeit der Sterbenden (Elias 1991).
    Die Begleitung und der Beistand im Sterben haben nicht nur medizinische Aspekte. Menschliche Nähe, seelsorgerlicher Beistand und geistliche Begleitung sind ebenso wichtig wie ärztliche und pflegerische Betreuung. Die Zuwendung im Sterben ist eine ebenso zentrale Aufgabe wie die Heilung von Krankheiten und die Bewahrung des Lebens. Ethisch kommt denjenigen Handlungsmöglichkeiten eine besondere Bedeutung zu, die geeignet sind, die Furcht vor einer als sinnlos empfundenen Verlängerung des Leidens zu mildern.
Sind Leben und Tod gleichwertig?
    Die Massenmorde an behinderten Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft haben die Diskussion über die Unantastbarkeit des Lebens in Deutschland über lange Zeit beeinflusst. Während in anderen Ländern schon seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eineneue Diskussion über eine humanitär begründete Lebensverkürzung aufkam und in einigen von ihnen – insbesondere den Niederlanden – zu neuen Gesetzen führte, waren derartige Überlegungen in Deutschland mit einem Tabu belegt. Für die unbedingte Geltung des Lebensschutzes sprachen dabei sowohl die Erinnerung an geschichtliche Schuld als auch moralische Überlegungen. Allein Würde und Leben des Einzelnen und nicht etwa Gründe, die sich aus der Belastung der Angehörigen oder der fehlenden Nützlichkeit eines Kranken für die Gesellschaft ergaben, sollten die Entscheidung über medizinische Maßnahmen am Lebensende bestimmen.
    Ganz anders zu bewerten ist der persönliche Wunsch, angesichts einer unheilbaren Krankheit aus dem Leben zu scheiden. Keine Rechtsordnung kann einen Menschen daran hindern, aus freier Selbstbestimmung für sich den Tod und nicht das Leben zu wählen. Doch auch wenn aus Respekt vor der Selbstbestimmung des Menschen die Strafbarkeit des Suizids aus unserer Rechtsordnung verbannt wurde, folgt daraus keine Gleichwertigkeit der Entscheidung für das Leben oder für den Tod.
    Es lässt sich einwenden, dass zur Lebenskunst auch die Bereitschaft gehört, das Sterben anzunehmen, wenn die Zeit gekommen ist. Doch diese Bereitschaft gründet nicht darin, dass der Freiheit zum Leben eine gleichrangige Freiheit zum Tod zur Seite träte. Es ist nicht die Freiheit zum Tod, sondern die Freiheit vom Tod, die uns Menschen ermöglicht, Sterben und Tod anzunehmen. Diese Freiheit wurzelt in der Gewissheit, dass Leiden, Krankheit und Tod nicht das letzte Wort über unser Leben haben, denn diesem Leben ist eine über all das hinausweisende Gültigkeit zugesprochen.
    Religiös und ethisch gibt es keine Gleichwertigkeit zwischen der Option für das Leben und der Option für den Tod. Besteht rechtlich eine solche Gleichwertigkeit? Das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, die Freiheit des Einzelnen bestehe in der «Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug». Für die individuelle Lebensführung, so folgert der

Weitere Kostenlose Bücher