Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Verfassungsrechtler Horst Dreier, kann das auch Entscheidungen einschließen, die unvernünftig, medizinisch unvertretbar, ja selbstzerstörerisch sind (Dreier 2008). Doch selbst wenn das Grundrecht auf Selbstbestimmung solche Entscheidungen einschließt, darf man doch versuchen, einen Menschen von selbstzerstörerischenHandlungen abzuhalten. Gerade auf solche Situationen bezieht sich die Pflicht zur Fürsorge und zur Verantwortung für fremdes Leben. Dem Mitmenschen auch in solchen Situationen zu raten, beizustehen und Mut zum Leben zu machen, ist eine vorrangige Aufgabe. Seine Entscheidung ist zu respektieren; die Einsamkeit, die ihn vielleicht zu ihr führt, ist dagegen nicht hinzunehmen. Alle Anstrengung ist darauf zu richten, dass er nicht unberaten und unbegleitet seinem Leben ein Ende setzt.
Die existentielle Notlage der Betroffenen ist auch zu berücksichtigen, wenn Menschen, die unter unheilbaren Krankheiten leiden, von Sterbehilfeorganisationen Hilfe erwarten. Solche Organisationen machen den assistierten Suizid zum Geschäftsmodell. Das geschieht auch dann, wenn die Erträge aus dieser Tätigkeit nicht als wirtschaftlicher Profit erscheinen, sondern einem Verein zufließen, der sie für die Stabilisierung und Ausweitung seines Angebots nutzt. Die organisatorische Beihilfe zum Suizid legt die Auffassung nahe, bei ausweglos erscheinender Krankheit sei der Suizid die ethisch vorrangige Option. Aus der Selbstbestimmung des Suizidwilligen wird abgeleitet, es gebe sowohl ein Recht als auch eine Pflicht dazu, ihm bei der Erfüllung seines Wunsches beizustehen. Doch einen solchen Automatismus kann es schon deshalb nicht geben, weil der Wunsch nach Selbsttötung keineswegs immer das Ergebnis einer selbstbestimmten Wahl zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten ist. Er kann vielmehr auch aus dem Gefühl der Ausweglosigkeit entstanden sein. Deshalb bleibt es eine vorrangige moralische Pflicht, Suizide nach Möglichkeit zu verhindern und sich mit Menschen, die ihre Situation als ausweglos empfinden, um alternative Möglichkeiten zu bemühen. Die organisierte Form der Suizidbeihilfe ist deshalb abzulehnen. Die Tatsache, dass sie in europäischen Nachbarländern zugelassen ist, kann kein hinreichender Grund für ihre Legalisierung sein (vgl. EKD, Sterben 2008: 24ff.).
Begleitung und Beistand im Sterben
Wenn vor diesem Hintergrund die ärztliche Beihilfe zum Suizid und die Tötung auf Verlangen aus ethischen Gründen ausgeschlossen sein sollen, stellt sich die Frage nach ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen, dieunnötiges Leiden vermeiden und dessen sinnlose Verlängerung ausschließen (vgl. Borasio 2012; Bormann/Borasio 2012; Maio 2012: 337ff.).
Die erste dieser Handlungsweisen ist der Ausbau und wirksame Einsatz der Palliativmedizin. Schmerz und Leiden bei Krankheiten zum Tode zu lindern, ist eine vorrangige Aufgabe ärztlichen Handelns; sie kann an die Grenze führen, an der wirksame Schmerzlinderung mit der Gefahr einer Lebensverkürzung verbunden ist (sogenannte «indirekte Sterbehilfe»). Es ist in der Medizinethik verbreitet, die mögliche Lebensverkürzung mit der Begründung zu rechtfertigen, es handle sich um einen nicht intendierten Nebeneffekt der schmerzlindernden Maßnahme
(duplex effectus
; vgl. Schockenhoff 2009: 276f.). In allen Fällen, in denen diese Nebenwirkung mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausgesehen werden kann, überzeugt dieses Argument nicht. Denn es gilt, die Verantwortung für die voraussehbaren Folgen des eigenen Handelns zu übernehmen. Im Fall solcher möglicher Nebenwirkungen ist deshalb entscheidend, dass die Maßnahme dem ausgesprochenen oder anzunehmenden Willen des Patienten entspricht. Es muss ein Einverständnis darüber erreicht sein, dass Patient und Arzt gemeinsam im Fall einer unheilbaren Krankheit und angesichts von Schmerz und Leiden das mit der schmerzlindernden Maßnahme verbundene Risiko auf sich nehmen.
Eine weitere Handlungsweise ist der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen (sogenannte «passive Sterbehilfe»). Unstrittig ist in der Medizinethik, dass «Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens abgebrochen werden dürfen, wenn eine Verzögerung des Todeseintritts für den Sterbenden eine nicht zumutbare Verlängerung des Leidens bedeutet und das Grundleiden mit seinem irreversiblen Verlauf nicht mehr beeinflusst werden kann» (Bundesärztekammer 2004:1298). Auch hier kommt es darauf an, dass der Wille des Patienten und die ärztliche Entscheidung
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