Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Behinderten liefe eine solche Entwicklung zuwider (Deutscher Ethikrat 2011: 116ff.).
Ähnlich wie die Pränataldiagnostik (PND) wird beim Einsatz der In-Vitro-Fertilisation (IVF) auch die PID wahrscheinlich zum Regelfall werden; die einstweilen vorgesehene Einschränkung auf Fälle, in denen schwerwiegende Erkrankungen zu befürchten sind, wird sich kaum auf Dauer halten lassen. Geht es nur um Leidvermeidung oder auch um Vervollkommung
(enhancement)
?
Spannungsvolles Menschenbild
Verletzlichkeit und Vervollkommnung, Vulnerabilität und Perfektibilität beschreiben nicht nur zwei Ausgangspunkte für heutiges Handeln in Medizin und Lebenswissenschaften. Diese beiden Eckpunkte sind im abendländischen Menschenbild miteinander verbunden. Sie lassen sich auf das griechische und auf das biblische Bild vom Menschen und damit auf die Grundgedanken des Selbstbewusstseins und der Nächstenliebe zurückführen.
Das griechische Bild eines Menschen, der durch
arete
, durch die Befähigung zum gelingenden Leben, ausgezeichnet ist, orientiert sich an der gesunden, ja makellosen Person, wie sie noch den heutigen Betrachter in den Statuen von Phidias oder Praxiteles unmittelbar beeindruckt. In der menschlichen Person verbinden sich Qualität der Leistung und Anmut des Körpers miteinander; das Gute und das Schöne gehören zusammen. Das zeigt sich auf exemplarische Weise an den Siegern in den Wettkämpfen von Olympia; man kann von einem olympischen Modell des Menschen sprechen. Diesem Modell entspricht die Hochschätzung der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen. Die griechische Philosophie erfasst dies in dem Motiv, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen zur Selbstachtung bestimmt ist. Wenn er von dieser Selbstachtung Gebrauch macht, handelt er aus Freiheit.
Auch die biblische Tradition schätzt den Menschen hoch. Sie sagt von ihm, Gott habe ihn zu seinem Ebenbild geschaffen. Der Mensch ist deshalb nur «wenig niedriger gemacht» als Gott (Psalm 8,6). Doch mit dieser Hochschätzung verbindet sich eine ausdrückliche Hinwendung zum Leidenden, Kranken, der Hilfe Bedürftigen. Dass der Mensch ein verletzliches, auf die Hilfe anderer angewiesenes Wesen ist, tritt in der biblischen Tradition markant hervor. Der Bogen spannt sich vom leidenden Hiob bis zu Jesus, dem Schmerzensmann; wir können von einem jesuanischen Modell des Menschen sprechen. Ihm entspricht das Motiv der Fürsorge für den Mitmenschen. Neben die Liebe zu sich selbst tritt die Liebe zum Nächsten. Die Achtung vor der Integrität des andern, die Zuwendung zu ihm – selbst dann, wenn er mein Feind ist –, die Barmherzigkeit gegenüber dem, der auf Hilfe angewiesen ist: Das ist dieGrundhaltung, die dem abendländischen Paradigma dank des jüdischen und christlichen Ethos eignet.
Das biblische Urbild solcher Nächstenliebe findet sich in dem berühmten Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25ff.; vgl. Huber 2011: 110ff.). Dieses Gleichnis steht für die Bereitschaft, sich durch das Leiden anderer Menschen unterbrechen und aufhalten zu lassen. An Kranken und Behinderten nicht achtlos vorüberzugehen ist nicht nur eine individuelle Verpflichtung, bei deren Verletzung man der unterlassenen Hilfeleistung schuldig werden kann. Es handelt sich auch um eine Pflicht der Gesellschaft. An der Art, in der sie dieser Pflicht gerecht wird, entscheidet sich die gesellschaftliche Humanität, denn daran zeigt sich, ob die gleiche Würde aller Menschen praktische Konsequenzen hat.
Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden geschilderten Menschenbildern ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert. Das olympische, leistungsorientierte Modell ist ein kräftiger Anstoß für die Bereitschaft, sein Bestes zu geben und seine Gaben zu entfalten. Das jesuanische Modell, das den leidenden Menschen würdigt, gibt dem Menschenbild und damit dem Wertesystem Tiefe und Humanität. Diese Haltungen in ihrer spannungsvollen Zusammengehörigkeit wahrzunehmen, ist eine zentrale Aufgabe persönlicher Lebensführung wie gesellschaftlicher Gestaltung. In beiden Bereichen geht es darum, dass Autonomie und Nächstenliebe, Selbstbestimmung und Fürsorge in der Balance gehalten werden. Diese Aufgabe ist umso wichtiger, je stärker der Sog wird, der vom Gedanken der Perfektibilität ausgeht.
Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch
Die Vorstellung von einer erreichbaren menschlichen Vollkommenheit geht inzwischen so weit, dass sogar die Unsterblichkeit als
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