Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
solidarisches Versicherungswesen.
Der Gerechtigkeitsgedanke schließt nicht aus, dass jemand auf eigene Kosten über das Notwendige hinausgehende Gesundheitsmaßnahmen finanziert; dies allein ist kein Grund zu dem kritischen Vorhalt, es handle sich um eine «Zwei-Klassen-Medizin». Begründet ist dieser Einwand dann, wenn innerhalb des solidarischen Versicherungssystemsunterschiedliche Standards der Behandlung und Versorgung etabliert werden, wenn die Institutionen des allen offenstehenden Gesundheitswesens ohne angemessenen Kostenausgleich für private Vorteile genutzt werden oder wenn die Bevorzugung von Privatpatienten sich für Kassenpatienten nachteilig auswirkt. In Deutschland wirft das nach wie vor bestehende Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung immer wieder die Frage auf, ob es sich um selbst finanzierte Zusatzleistungen oder um eine Zwei-Klassen-Medizin innerhalb des auf Gerechtigkeit verpflichteten solidarischen Versicherungssystems handelt. Immer wieder wird darüber nachgedacht, diese Systeme zusammenzuführen. Wenn das einvernehmlich gelingen sollte, würde dadurch das Vertrauen in die Gerechtigkeit des Gesundheitswesens gestärkt (vgl. EKD 2011).
Auch in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern kann ein Solidarsystem nicht beliebig große Lasten tragen. Unausweichlich stellt sich die Frage, was medizinisch notwendig ist und auf welche Weise darüber entschieden wird. Einigkeit sollte darin bestehen, dass bei vergleichbarer Effizienz die kostengünstigere Diagnosestellung und Therapie den Vorrang haben muss. Ferner sind Rationalisierungsmaßnahmen wie der Verzicht auf nutzlose Doppeluntersuchungen oder auf die Verschreibung unnötiger Medikamente moralisch verpflichtend. Medikamente, die unter Patentschutz stehen und dadurch teurer sind als andere, können nur eingesetzt werden, wenn sich mit ihnen ein erheblicher Zusatznutzen verbindet. Rationalisierungen dieser Art schieben die Grenze hinaus, jenseits derer sich die Frage nach der Rationierung medizinischer Leistungen stellt.
Das Thema der Rationierung ist in Deutschland aus nachvollziehbaren Gründen mit einem Tabu belegt, denn unter dem Hitler-Regime wurden Lebenschancen nach rassistischen Maßstäben, aber auch nach der Verwendbarkeit von Menschen für Arbeitseinsätze zugeteilt. Seitdem stößt jeder Vorschlag, der im Sinn einer Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem oder von nützlichem und weniger nützlichem Leben verstanden werden kann, zu Recht auf große Vorbehalte.
Jede Entscheidung über einen Vorrang in der medizinischen Behandlung muss diesen Vorbehalten Rechnung tragen und sich ausdrücklich vor dem Gleichheitsgrundsatz und damit vor dem Recht auf gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen legitimieren. Nur so begründete Prioritätenhaben vor dem medizinischen Ethos Bestand. Im Gleichheitsgrundsatz muss es begründet sein, wenn in einer Notfallaufnahme Patienten nicht einfach nach ihrer Ankunftszeit, sondern nach ihrem akuten Gefährdungszustand behandelt werden, oder wenn die Zuweisung von Organen nach der aktuellen Lebensgefahr und den erhofften Heilungschancen erfolgt.
Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat bei der Erörterung dieser Frage formale und inhaltliche Kriterien voneinander unterschieden. In formaler Hinsicht hat sie unter anderem Transparenz, demokratische Legitimation und wirksamen Rechtsschutz gefordert. In inhaltlicher Hinsicht hat sie drei Kriterien vorgeschlagen, nämlich die medizinische Bedürftigkeit (Schweregrad und Gefährlichkeit der Krankheit, Dringlichkeit des Eingreifens), den erwarteten medizinischen Nutzen und die Kosteneffizienz.
Das erste dieser drei inhaltlichen Kriterien wird an Hand unterschiedlicher Stufen der Dringlichkeit verdeutlicht. Der Lebensschutz sowie der Schutz vor schwerem Leid und starken Schmerzen am einen Ende der Skala haben Vorrang vor der Verbesserung und Stärkung von Körperfunktionen an deren anderem Ende. Beim zweiten Kriterium geht es um den medizinischen Nutzen beim einzelnen Patienten, also nicht um einen medizinischen Gesamtnutzen für die Gesellschaft. Ausdrücklich ausgeschlossen ist schon durch den Wortlaut die Bezugnahme auf einen ökonomischen Nutzen, also etwa die Vorstellung, dass die Behandlung eines Besserverdienenden den Vorrang vor derjenigen eines Schlechterverdienenden oder eines Arbeitslosen hat. Beim dritten Kriterium dagegen wird eine Kosten-Nutzen-Rechung vorausgesetzt, die sich nicht nur auf den
Weitere Kostenlose Bücher