Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Einzelfall bezieht. Es heißt vielmehr wörtlich: «Wenn Maßnahmen mit einem sehr ungünstigen Kosten-Nutzen-Profil unterbleiben, können die frei werdenden Ressourcen anderen Patienten mit einem größeren zu erwartenden Nutzen zugute kommen.» (Zentrale Ethikkommission 2007: A2752)
Die Philosophin Weyma Lübbe hat eingewandt, dass mit der Bezugnahme auf einen Gesamtnutzen der Übergang von einer am Recht der Einzelnen orientierten Betrachtungsweise zu einer utilitaristischen Argumentation vollzogen wird. Das Recht des Einzelnen tritt hinter dem Gesamtnutzen für die Gesellschaft zurück. Wenn es um Gesundheit geht, ist jedoch eine solche Betrachtungsweise verfehlt. Denn «wir möchten,dass Patienten versorgt werden, weil es gut für ihre Gesundheit ist, nicht, weil ihre Gesundheit gut für die Gesellschaft ist» (Lübbe, in: Deutscher Ethikrat 2011: 109). Nicht die gesellschaftliche Nützlichkeit ist maßgeblich; vielmehr muss beim Verzicht auf bestimmte Maßnahmen gezeigt werden, dass die Behandlung im gegebenen Fall ungerecht wäre (Lübbe in: Deutscher Ethikrat 2011: 119ff., vgl. 116f.). Die Prüfung der Kosteneffizienz muss sich also auf den Vergleich bestimmter Leistungen im Einzelfall beziehen, nicht auf den Vergleich zwischen verschiedenen Patienten oder auf einen gesellschaftlichen Gesamtnutzen.
Neben der medizinischen Dringlichkeit und dem erhofften medizinischen Nutzen für den Einzelnen ist der gesellschaftliche Gesamtnutzen also kein eigenständiges Kriterium für die Entscheidung über die Verwendung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen. Die Kosteneffizienz ist ein wichtiges Kriterium beim Vergleich unterschiedlicher Behandlungswege oder bei der Vereinbarung von Medikamentenpreisen oder Pflegesätzen. Eine Grundlage für die Entscheidung darüber, welcher Patient oder welche Patientengruppe Vorrang genießt, bietet sie dagegen nicht.
Gesundheitsleistungen tragen nicht nur einen technisch messbaren Charakter. Zu ihnen gehört menschliche Zuwendung, die von Ärzten, Pflegekräften und Seelsorgern situationsgerecht erbracht werden muss. Wenn die Zuwendung zu Kindern auf der Kinderstation oder das Gespräch mit Krebspatienten oder Sterbenden nicht mehr in die Fallkalkulation aufgenommen werden, muss man deshalb von schweren Qualitätsmängeln sprechen. Ärztliches Handeln und Pflege tragen den Charakter der Fürsorge und der Beziehungsarbeit. Das zu achten gehört zu den vorrangigen institutionsethischen Aspekten des Gesundheitswesens.
Medizin und Pflege haben es nicht nur mit Heilung
(cure)
, sondern auch mit Fürsorge
(care)
zu tun. Die Gleichberechtigung dieser beiden Aufgaben ist ein medizinethisches Postulat. Pflege und Palliativversorgung werden in Zukunft an Gewicht gewinnen. Menschen, die unter eingeschränkten Lebensperspektiven leiden, brauchen eine Gesundheitsversorgung im Quartier, in der Hausarztpraxen nicht nur mit Fachärzten, sondern auch mit Beratungsstellen sowie mit Pflege- und Sozialdiensten kooperieren. Zum Anspruch auf den Zugang zu Gesundheitsleistungen gehört eine umfassende Zuwendung.
Die Gleichberechtigung von
cure
und
care
hat weitreichende Konsequenzen für die ärztlichen Aufgaben. Die Heilung von Krankheiten, so weit dies möglich ist, tritt neben die Begleitung bei chronischen Krankheiten. Der verantwortungsbewusste Ressourceneinsatz verbindet sich mit dem Engagement in der Prävention, das öffentliche Eintreten gegen gesundheitsgefährdende zivilisatorische Entwicklungen eingeschlossen. Die Spannweite ärztlichen Handelns reicht von der Unterstützung der individuellen Gesundheitsverantwortung bis zur Sterbebegleitung.
Noch einmal: Organtransplantation
Wir kehren abschließend zum Beispiel der Organtransplantation zurück, mit dem dieses Kapitel begann. Trotz der Risiken, die sich vor allem mit Abstoßungseffekten verbinden, hängen große Heilungshoffnungen an der Bereitschaft zur Organspende. Zu prüfen, ob man dazu bereit ist, gehört heute zur mitmenschlichen Verantwortung. Durch geeignete Initiativen ist diese Selbstprüfung weiter zu stärken. Dabei bleibt die ethische Grundlage für den in Deutschland eingeschlagenen Weg richtig: Die Bereitschaft zur Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe. Auch wenn man die Bereitschaft zur Organspende als die ethisch vorzugswürdige Entscheidung ansieht, darf niemand moralisch oder rechtlich zu dieser Entscheidung genötigt werden (Nationaler Ethikrat 2007: 39).
Ein Teil des eigenen Körpers wird zur Verfügung
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