Ethik: Grundwissen Philosophie
widersprechenden [53] Betätigungsweisen eingeschränkt.« (Hume 1978, 233) Nach Hume kommen die Menschen zu einer Übereinkunft. Sie »beruht auf dem allgemeinen Bewußtsein des gemeinsamen Interesses; dies Bewußtsein geben sich alle Mitglieder der Gesellschaft wechselseitig kund und werden so veranlaßt, ihr Verfahren nach gewissen Normen zu ordnen.« (Hume 1978, 233) Die moralischen Normen sind Hume zufolge das Ergebnis einer solchen Übereinkunft.
Herlinde Pauer-Studer bezeichnet auch John Rawls als Vertragstheoretiker. Er bezieht sein Modell zwar auf seine Gerechtigkeitstheorie, doch lässt es sich auf die Begründung moralischer Prinzipien übertragen. (Vgl. Pauer-Studer 2003, 96) Rawls beginnt seine Überlegungen mit den Worten: »Wir wollen uns also vorstellen, daß diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden.« (Rawls 1975, 28) Dieser gemeinsame Akt ist der Vertragsschluss, zu dessen Zeitpunkt niemand weiß, welche Stellung er später in der Gesellschaft einnehmen wird, damit er sich nicht schon bei Vertragsschluss unlautere Vorteile verschafft. Rawls nennt diesen Zustand, in dem man nicht weiß, welchen Platz man später in der Gesellschaft haben wird, den »Schleier der Unwissenheit« (veil of ignorance). (Rawls, 1975, 159)
Gegen die Idee einer Vertragskonstruktion als Ausgangspunkt für die Begründung einer Staats- und Rechtsordnung mit Sanktionssystem gibt es freilich auch grundsätzliche Bedenken: Um einen Vertrag schließen zu können, müssen Rahmenbedingungen für die Möglichkeit des Schließens und Einhaltens von Verträgen vorhanden sein. Der Vertrag genügt sich nicht selbst. (Vgl. Durkheim 1988, 272) Verträge können überhaupt nur in einer höchst voraussetzungsvollen rechtlichen und moralischen Situation geschlossen werden. Wenn es keine Basisgarantien dafür gäbe, würde niemand Verträge schließen. Darum kann der Vertragsschluss für die [54] Staatsgründung zu keiner Zeit Ausgangspunkt sein, sondern muss sich immer auf anerkannte rechtliche Rahmennormen als Bedingungen der Möglichkeit von Verträgen beziehen. Verträge müssen realisiert, im Zweifelsfall eingeklagt und die Urteile durchgesetzt werden können. Kurz: Es muss bestimmt werden, »unter welchen Bedingungen sie rechtskräftig sind« (Durkheim 1988, 272). Dazu bedarf es einer bereits bestehenden Staats- und Rechtsordnung. Ein kontextloser Vertrag kann demnach logischerweise niemals Grundlage einer solchen Ordnung sein.
Unter den zeitgenössischen Kontraktualisten ist neben Rawls vor allem der Philosoph Peter Stemmer (*1954) hervorzuheben. Für ihn hat moralisches Handeln zwei Charakteristika: Erstens ist es ein Handeln zugunsten anderer und zweitens hat es den Charakter des moralischen Gefordertseins. Moralisches Gefordertsein ist kategorisch, und zwar unabhängig davon, welche Ziele derjenige verfolgt, an den sich die Forderung richtet. »Er muß so handeln, Punkt.« (Stemmer 2000, 11)
Stemmers Moralbegründung fokussiert die Zeit nach dem Theozentrismus, also die Zeit nach dem Ende einer religiösen Homogenität in Europa, wie es sie im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit gab. (Stemmer 2000, 7) Er bezieht sich zunächst auf Humes Grundkonzeption, die zweierlei beinhaltet: 1. Das Ziel des Handelns ist ausschließlich durch die Wünsche der Individuen bestimmt. 2. Die Vernunft ist die Dienstmagd der Wünsche. (Bei Hume heißt es: »Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.« Vgl. Hume 1978, 153.) Stemmer geht in Humes Sinne von Individuen und deren Wünschen beziehungsweise Interessen aus und nicht vom sozialen Kontext, wenn er Moral konzeptualisiert. (Stemmer 2000, 20) Er lehnt es ausdrücklich ab, vom sozialen Kontext, vom Common Sense oder Status quo auszugehen, weil »praktische Rationalität […] strikt individuell« sei. (Stemmer [55] 2000, 21) Das Müssen ist nach seiner Ansicht immer auf ein individuelles Wollen bezogen.
Aus dem individuellen Wollen als apodiktisch evidentem Startpunkt seiner Theoriekonzeption entwickelt Stemmer den moralischen Kosmos in folgender Weise: Wenn jemand den letzten Bus bekommen will, muss er jetzt gehen. Daraus ergibt sich, dass ein Müssen immer rational ist, denn es wäre
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