Ethik: Grundwissen Philosophie
die Moralkonzeption Stemmers und damit ist das »Unrechttun im Verborgenen« – wie ein Kapitel seines Buches überschrieben ist (Stemmer 2000, 162ff.) – die Schwachstelle seines und überhaupt des kontraktualistischen Konzepts, abgesehen von der bereits angeführten generellen Kritik an den Vertragstheorien.
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Funktionalismus
Cs vierter Einwand gegen As Plan, das Fußballspiel anzuschauen, lautete: Unser Zusammenleben würde nicht funktionieren, wenn man sich nicht mehr darauf verlassen könnte, dass Versprechen gehalten werden, ja, weitergehend, wenn wir moralische Regeln gar nicht mehr einhalten würden. Für die Beschreibung und Erläuterung dessen, was Moral nach Niklas Luhmann (1927–1998) in funktionaler Hinsicht leistet, gehe ich von der doppelten Kontingenz aus. Was ist das? Da menschliches Handeln heute nicht mehr allein an einer allgemeinverbindlichen und von allen akzeptierten christlichen Offenbarung ausgerichtet ist, hat jedes Individuum unendlich viele Handlungsalternativen, die weder notwendig noch unmöglich sind. (Vgl. Luhmann 1984, 152) Von den unendlich vielen Möglichkeiten wird
eine
Handlungsmöglichkeit gewählt; es könnte genauso gut eine andere sein – darin liegt die Kontingenz.
Die Kontingenz wird verdoppelt, wenn sich zwei oder mehrere Menschen gegenüberstehen, von denen jeder einzelne unendlich viele Handlungsmöglichkeiten hat. Die doppelte Kontingenz ist demnach die beiderseitige Ungewissheit hinsichtlich dessen, was die »andere Seite tun wird, und daraus folgt die Unbestimmtheit des eigenen Handelns« (Stichweh 1999, 215). Wenn aber nun jeder kontingent handelt, so Luhmann, »also jeder auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte […] im Handeln anderer findet« (Luhmann 1984, 165). Dann wäre die Handlungskoordination höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Luhmann zog zur Illustrierung folgendes Beispiel heran: Er stand in der Post und vor ihm am Schalter erklärte der [61] Schalterbeamte einer Frau mit hartem östlichem Akzent wieder und wieder das Ausfüllen eines Formulars. Luhmann hatte das längst verstanden und bot der Frau an, ihr zu helfen. Sie gingen zu einem kleinen Tisch, wo er sich setzte, um das Formular auszufüllen. Er wollte das Formular nehmen, doch die Frau riss es an sich und rannte aus der Post. Das ist eine typische Situation der doppelten Kontingenz. Von vielen möglichen Handlungsalternativen haben die beiden jeweils eine gewählt, die vom anderen nicht erwartet wurde.
Welche Lösung bietet sich in einer so vertrackten Situation von doppelter Kontingenz an? Es ist die Systembildung. (Vgl. Luhmann 1984, 148ff.; Baecker 2002, 11) In den Systemen bilden sich Strukturen. Es muss Regeln geben, auf die man sich in der Interaktion mit anderen verlassen kann, das heißt, es gibt die Erwartung, dass andere sich ebenfalls danach richten. Die anderen haben wiederum die Erwartung, dass man sich selbst danach richtet. Diese Sichtweise ist nicht weit von der Konstruktion der Vertragstheorie der Moral entfernt. Die Erwartungen und Erwartungserwartungen sind in den Sollensnormen enthalten, deren Summe wir Moral nennen. Für die Moral ist aber nicht ein einziges gesellschaftliches Subsystem, wie Wirtschafts-, Rechts- oder Erziehungssystem, reserviert, sondern sie ist ubiquitär. (Vgl. Luhmann 2008, 336) Das Sollen hat eine funktionale Unersetzlichkeit für die Gesellschaft, sagt Luhmann. Dabei wird die Frage aufgeworfen, welches Sollen gemeint ist: das moralische, das rechtliche oder das traditionelle? Wahrscheinlich sind es alle drei Sollensformen. (Vgl. Luhmann 2008, 46f.) Die Funktion von Sollensnormen ist es, eine Struktur für die Interaktion zu bilden; seien diese Sollensnormen nun traditioneller, moralischer oder rechtlicher Art. Mit »Struktur« ist – wie gesagt – bei Luhmann das Netz von Erwartungen und Erwartungserwartungen gemeint. (Luhmann 2008, 32) »Höhere und verläßlichere Wahrscheinlichkeiten des Übereinkommens sind nur zu erreichen, wenn man den Erwartungshorizont des je aktuellen Erlebens einbezieht und das Verhalten über [62] Erwartungen koordiniert. Durch Stabilisierung von Verhaltenserwartungen läßt sich die Zahl der aufeinander abstimmbaren und damit die Zahl der überhaupt möglichen Handlungen immens steigern.« (Luhmann 2008, 28) Und wenn man weiß, was man erwarten kann,
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