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Ethik: Grundwissen Philosophie

Ethik: Grundwissen Philosophie

Titel: Ethik: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Detlef Horster
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irrational, den letzten Bus erreichen zu wollen, jetzt aber nicht zu gehen. Das ist freilich noch kein moralisches Müssen. Wenn der Betreffende jetzt nicht geht, macht ihm niemand einen Vorwurf. Es ist in diesem Stadium noch eine Frage der Klugheit, jetzt zu gehen. Diese Konstruktion des Einzelwollens und Einzelmüssens bezieht Stemmer sodann auf das moralische Müssen. Er hat für eine Moralbegründung nun den Schritt vom einzelnen Menschen zum Sozialen zu tun. Das
moralische
Müssen ist auf andere Menschen bezogen. Andere könnten vom Gegenüber verlangen, etwas zu tun, zu unterlassen oder sich in bestimmter Weise zu verhalten. Der andere hat ein Recht, etwas zu fordern. Das moralische Müssen ist nach Stemmer ebenfalls auf ein Wollen bezogen. Welches Wollen oder Wünschen steht dahinter? Es ist das Wollen oder Wünschen, dass der andere sich in bestimmter Weise verhält, wenn er mit einem selbst in Interaktion tritt. Dieses Müssen, das von dem anderen gefordert wird, muss ebenfalls ein wechselseitiges sein, und selbstverständlich ist das Wollen, das hinter dem moralischen Müssen steht, ebenfalls ein wechselseitiges.
    Wie wird nun der Raum des wechselseitigen Müssens im Kontraktualismus konstituiert? Im vormoralischen Raum gibt es bereits ein Müssen, ohne dass Sanktionen vorhanden sind. Für A ist es ein Gebot rationaler Klugheit, solche Handlungen gegen B zu unterlassen, von denen er wünscht, dass auch B sie ihm gegenüber unterlässt. A wünscht, dass B es unterlässt, ihn zu belästigen, zu kränken und zu verletzen. Das gilt selbstverständlich ebenso umgekehrt. Den anderen nicht zu verletzen, liegt im Horizont des Eigeninteresses. Es [56] gibt – so argumentiert Stemmer – bereits bei Thomas Hobbes im vormoralischen Raum eine Dynamik weg von dem Zustand, dass jeder die Freiheit hat, alles zu tun, was er will, hin zu einem Zustand der reziproken Freiheitsbeschränkung. Man könnte von einem vormoralischen Zustand 1 und 2 sprechen. Zwischen beiden liegt laut Stemmer die Einsicht, dass die Koordination des Handelns der Menschen notwendig ist, um die jeweiligen Ziele zu erreichen. Man könnte sagen, dass man es im vormoralischen Raum 1 unterlässt, den anderen zu schädigen, weil man will, dass der andere das ebenfalls unterlässt. Es ist ein noch ungeregeltes Verhalten. Im vormoralischen Raum 2 entsteht die Einsicht in die Notwendigkeit von Koordination und Regelkonstitution. So entsteht ein »Zustand mit Strukturen kooperativer Ordnung« (Stemmer 2000, 93). Allerdings ist Stemmer zufolge der Zustand 2 immer noch ein Zustand ohne Moral. In diesem Zustand gibt es zwar Handeln zugunsten anderer, doch hat es noch nicht den Charakter des Gefordertseins. Dies aber ist für Stemmer das zweite Charakteristikum moralischen Handelns.
    Was muss nun hinzukommen, um von einem moralischen Zustand sprechen zu können? Mit seiner Antwort greift Stemmer auf Hobbes zurück und benennt den zentralen Punkt seiner Vertragskonzeption: Das durch Sanktionen konstituierte Müssen ist das moralische Müssen. Die Etablierung von Sanktionen markiert für Stemmer den Übergang vom vormoralischen zum moralischen Raum. (Stemmer 2000, 101) Das prudentielle Müssen wird durch Sanktionen, durch künstliches Müssen verstärkt. Erst dann könnten wir von einem moralischen Zustand, in dem moralisches Handeln den Charakter des Gefordertseins annimmt, sprechen. (Stemmer 2000, 99) Und je härter die Sanktionen ausfallen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich jemand amoralisch oder gar unmoralisch verhält. (Stemmer 2000, 95)
    Mit der Errichtung eines Sanktionssystems optimieren die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft nach Auffassung [57] von Stemmer die Umsetzung ihres Wollens. Was bedeutet das nun konkret? Nehmen wir ein Beispiel von David Hume: Bauer A und Bauer B verabreden, sich wechselseitig beim Ernteeinholen zu helfen. »Dein Korn ist heute reif, das meinige wird es morgen sein. Es ist für uns beide vorteilhaft, daß ich heute bei dir arbeite und du morgen bei mir.« (Hume 1978, 268) Es liegt in der Natur der Sache, dass eine der Ernten zuerst eingebracht werden muss. Bauer A hilft zuerst Bauer B. Nachdem B die Ernte in seiner Scheune hat, sagt er A, dass er nun keine Lust mehr habe, ihm zu helfen. Er habe ja seine Ernte bereits eingefahren. Einen solchen Vertragsbruch begeht B höchstwahrscheinlich nur ein einziges Mal in seinem Leben, denn es treffen ihn nach einem solchen Verhalten sofort moralische Sanktionen. Welche

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