Ethik: Grundwissen Philosophie
der Klage über den Werteverlust bei Jugendlichen. »Sicherlich mag festzustellen sein, daß gewisse Formen ›höflichen Verhaltens‹ (z. B. das Aufhalten einer Tür, das Freimachen eines Sitzplatzes usw.) und konventioneller Formen sich zunehmend auflösen (allerdings nicht nur bei Kindern und Jugendlichen), aber von diesem Faktum auf das Verschwinden von Moral, auf den Verlust von Werten zu schließen, wäre ebenso unberechtigt wie falsch.« (Merten 1994, 244) Man kann nur feststellen, dass sich solche Konventionen ändern und dass selbst diejenigen, die solche Konventionen noch als Kinder und Jugendliche gelernt und für wichtig erachtet haben, solche Verhaltensweisen als unangebracht, affektiert und eben nicht mehr den Konventionen entsprechend betrachten. Das ist aber etwas gänzlich anderes als Werteverlust. Das werde ich im Folgenden begründen.
Dass in verschiedenen Kulturen jeweils andere Wege zur Realisierung dieser Werte beschritten werden oder die Menschen in jeweils anderer Weise verpflichten, wurde bereits gezeigt. Genauso wie zwei Menschen Unterschiedliches [114] schätzen, gibt es Unterschiede zwischen Mitgliedern verschiedener Gesellschaften in der Bewertung dessen, was wertvoller ist. Was
ist
nun wertvoll? Für den einen Menschen ist es das Bergsteigen, für den anderen ein Glas Rotwein am Abend, für einen weiteren das Bungee-Jumping und für den Wallfahrer die Selbstkasteiung. Was wir vorziehen, hängt von unseren subjektiven Präferenzen ab. Der Wert ist mithin nicht jede dieser Tätigkeiten selbst, sondern die Werteigenschaft ist das »Zum-Wohl-Beitragen« der jeweiligen Aktivität. (Vgl. Schaber 2000, 350) Etwas ist für einen Menschen wertvoll, wenn es zu seinem Wohl beiträgt. Das »Zum-Wohl-Beitragen« des Bergsteigens, des Rotweingenusses, des Bungee-Jumpings oder der Selbstkasteiung ist objektiv wertvoll, nicht hingegen die jeweilige Tätigkeit, die dazu führt.
Wenn es nicht um verschiedene Menschen geht, sondern um verschiedene Regierungen, müssen sie sich folglich nicht darüber unterhalten, dass Frieden ein hoher Wert ist, denn er trägt zum Wohl der Menschen bei, sondern nur darüber, wie man ihn am besten realisiert. Staatsmächte streiten darüber, ob Abschreckung oder Abrüstung besser ist. Darüber hinaus können in Bezug auf das, was dieser Wert beinhaltet, andere Sachinformationen bestehen oder die Folgen entsprechend den jeweils anderen Sachinformationen anders eingeschätzt werden. (Vgl. Schaber 2000, 353) Jedenfalls ist die Werteigenschaft des Friedens das »Zum-Wohl-Beitragen«, und dieser Wert ist objektiv, universell und unstrittig. Daran ändert die Tatsache nichts, dass man unterschiedliche Wege geht, den Frieden zu erhalten, dass man unterschiedliche Sachinformationen über die Umstände hat, den Frieden zu erhalten, und demnach das, was man unter Frieden versteht, jeweils anders konnotiert sein kann. Unterschiedliche Wege der Realisierung, andere Sachinformationen und verschiedene Konnotationen können den Anschein erwecken, wir erlebten einen kulturell bedingten Werterelativismus. Von dieser Auffassung muss man schnell Abschied nehmen, wenn man weiß, dass die zugrunde liegende Werteigenschaft das [115] »Zum-Wohl-Beitragen« ist. Und diese Werteigenschaft ist es, die objektiv und universell ist.
Die dargestellte Diskussion zeigt, dass es im Gegensatz zu Habermas’ und Joas’ Auffassung objektive Werte gibt, die für unser menschliches Zusammenleben notwendig sind und nicht erst im Diskurs generiert werden müssen. Sie sind objektiv und in der Lage, bei ihrer Realisierung zum Wohl der Menschen beizutragen. Insofern kann Ratzinger richtigerweise sagen, dass Werte nicht von uns
er
funden, sondern
ge
funden werden müssen. (Vgl. Ratzinger 2005, 125) Doch wie soll man sie finden? Dass es Werte gibt, merkt man meist erst in dem Moment, in dem jemand sie bestreitet oder gegen moralische Regeln verstößt, die aus Werten abgeleitet sind. Die Realität von Werten muss man analog zu den nicht zu beobachtenden Entitäten in den Naturwissenschaften sehen. Um ein funktionales Argument zu benutzen: Der Erfolg der mit unbeobachtbaren Entitäten operierenden Wissenschaften spricht für ihre realistische Deutung. (Vgl. Hoyningen-Huene 2007)
Immanuel Kant etwa ging von der Realität der Gravitation aus. (Vgl. KrV B 691 und Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft A 71) Nur weil man sie nicht direkt sehen kann und ihr Beweis nur indirekt durch die von ihr
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