Eugénie Grandet (German Edition)
Ende der Gartenterrasse erhoben sich ein paar schattige Lindenbäume. An der einen Seite standen Himbeerbüsche, an der andern ein riesiger Nußbaum, der seine Äste bis über das Arbeitszimmer des Böttchers breitete. Ein klarer Tag und die an den Ufern der Loire so liebliche Herbstsonne begannen den Reif zu schmelzen, mit dem die Nacht dies malerische Bild, das Mauerwerk und die Pflanzen im Hof und im Garten behangen hatte.
Eugénie fand in der Betrachtung dieser so gewohnten Dinge ganz neue Reize. Tausend bunte Gedanken erwachten in ihrer Seele, wuchsen und wurden heißer und kräftiger, gleich den Sonnenstrahlen draußen im Freien. Sie wurde von unbestimmter und unerklärlicher Freude erfaßt, die ihre ganze Seele zärtlich umhüllte wie die Wolke einen Körper. Ihre Gedanken glichen der Natur dieses eigenartigen Landes, und die Harmonie ihres Herzens verband sich mit der Harmonie der Landschaft. Als die Sonne eine Mauerfläche traf, wo Venushaar in dichten Blättern niederhing, die wie der Hals einer Taube in allen Farben schillerten, da sah Eugénie die Zukunft von himmlischen Hoffnungsstrahlen erhellt. Und sie blickte auf das Stück Mauer, auf seine blassen Blumen, blauen Glocken und welkenden Blätter, aus denen es aufstieg wie liebliches Erinnern an Sommer und Kindheit. Das Geraschel, mit dem jedes fallende Blatt von seinem Zweig herniedertaumelte, war wie eine Antwort auf die geheimen Fragen des jungen Mädchens, das den ganzen Tag so hätte sitzen können, ohne der Flucht der enteilenden Stunden zu achten.
Doch dann erfaßte die zage Seele ein Sturm. Sie erhob sich wiederholt, trat vor den Spiegel und betrachtete sich prüfend, wie ein gewissenhafter Autor sein Werk betrachtet, um sich in ihm zu kritisieren und sich selber Grobheiten zu sagen.
›Ich bin nicht schön genug für ihn!‹ das war Eugénies Gedanke – ein demütiger und schmerzensreicher Gedanke. Das arme Mädchen ließ sich keine Gerechtigkeit widerfahren. Aber die Bescheidenheit, oder besser die Besorgnis ist eine der vornehmsten Tugenden der Liebe. Eugénie war kräftig entwickelt, wie die Kinder der Kleinbürger das häufig sind. Ihre Schönheit hatte etwas Gewöhnliches; aber obschon sie der Venus von Milo glich, war ihre Erscheinung von jener Milde christlichen Gefühls durchdrungen, die die Frau läutert und ihr einen den antiken Skulpturen mangelnden Adel verleiht. Sie hatte einen sehr großen Kopf, die männliche, doch zarte Stirn des Jupiters von Phidias, und graue Augen, denen ihr keusches Leben, das sich in ihnen ganz enthüllte, einen schimmernden Glanz verlieh. Ihr rundes, früher rosig frisches Gesicht hatte durch Pockennarben, die allerdings kaum sichtbar waren, etwas Derbes bekommen und seine Samtweiche verloren; trotzdem war ihre Haut noch immer so zart und fein, daß der sanfte Kuß ihrer Mutter sie sofort rötete. Ihre Nase war ein wenig zu stark, aber sie harmonierte mit einem tiefroten Mund, dessen mit tausend feinen Fältchen gezeichnete Lippen voller Liebe und Güte waren. Der Nacken hatte eine vollendete Rundung; der gewölbte, sorgsam verschleierte Busen lockte das Auge und verführte zum Träumen. Ihrer Kleidung freilich fehlte ein wenig leichte Anmut; aber ein Kenner würde in der herben Festigkeit dieser hohen Gestalt einen besonderen Reiz gefunden haben. Groß und stark, wie Eugénie war, hatte sie also nichts Hübsches im landläufigen Sinne, aber sie war von einer gewissen Schönheit, in die sich Künstler verlieben. Der Maler, der hier auf Erden nach dem himmlisch reinen Typ einer Maria sucht, der beim weiblichen Geschlecht die still vertrauenden Augen sucht, die Raffael malte, und jene meist nur visionär erschauten jungfräulichen Züge, die ein wahrhaft christliches und keusches Leben aber auch in Wirklichkeit schaffen kann – dieser Maler, verliebt in ein so seltenes Modell, würde ganz unerwartet im Antlitz Eugénies den angeborenen unbewußten Adel gefunden haben; er hätte unter einer ruhevollen Stirn eine Welt von Liebe erblickt, und im Schnitt der Augen, in der Form der Lider etwas Göttliches. Ihre Züge, die Konturen ihres Kopfes, die der Ausdruck der Lust niemals erregt oder ermüdet hatte, glichen den Linien des Horizonts, die sanft in weite, stille Seen tauchen. Dies ruhige, frische, lichtumrahmte Antlitz, das wie eine jungerschlossene Blüte war, erquickte die Seele durch seine Gewissensruhe und lockte die Augen. Eugénie stand noch am Ufer des Lebens: da blühen noch die Kindheitsillusionen
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