Eugénie Grandet (German Edition)
Bruders, mir sein Kind zu vermachen. Schöne Erbschaft das! Ich habe keine zwanzig Taler zu verschenken. Aber was sind zwanzig Taler für so einen Gecken? Wie er mein Barometer anstarrte, so, als wollte er es gleich in den Ofen stecken.‹
Als Grandet jetzt über die Konsequenzen dieses leidvollen Testamentes nachdachte, war er vielleicht aufgeregter, als sein Bruder gewesen sein mochte, als er das Testament verfaßte.
›Ich werde das goldene Kleid bekommen? ...‹ dachte Nanon, die sich im Traum mit dem Altartuch bekleidet sah und von Blumen und Stoffen, Damast und Brokat träumte – zum erstenmal in ihrem Leben, wie Eugénie zum erstenmal von der Liebe träumte.
Im reinen und einförmigen Leben der jungen Mädchen kommt einmal eine köstliche Stunde, da die Sonne ihre Strahlen in ihre Seele gießt, da die Blumen ihnen wie lebende Gedanken sind und das Blut des Herzens wie warme befruchtende Kraft zum Hirn strömt und den Gedanken umformt zu unbestimmtem Wünschen – ein Tag voll unschuldiger Melancholie und lieblicher Freuden! Wenn die Kinder sehen gelernt haben, so lächeln sie; wenn ein junges Mädchen die Sentimentalität in der Natur empfindet, lächelt sie dieses Kinderlächeln. Wenn das Licht die erste Liebe des Lebens ist, ist nicht die Liebe das Licht des Herzens? Für Eugénie war der Augenblick gekommen, die Dinge des Lebens klar zu sehen.
Wie alle Provinzmädchen Frühaufsteherin, erhob sie sich zeitig, verrichtete ihre Morgenandacht und begann ihre Toilette – eine Beschäftigung, die fürderhin Sinn und Vernunft haben würde. Zunächst glättete sie ihr kastanienbraunes Haar, wand es mit größter Sorgfalt in dicken Zöpfen um den Kopf und achtete wohl darauf, daß die einzelnen Haare nicht aus den Flechten sprangen; sie legte in ihre Frisur eine Symmetrie, die die schlichte Reinheit ihres Antlitzes vorteilhaft hob, da sie ihren kindlichen Zügen einen einfach-edlen Rahmen gab. Sie wusch sich die Hände lange und eifrig in klarem Wasser, das ihre Haut rötete und spröde machte; bei dieser Gelegenheit betrachtete sie ihre schönen runden Arme und fragte sich, wie es der Cousin wohl anstelle, so zarte, weiße Hände, so wohlgeformte Nägel zu haben. Sie zog ein Paar ganz neue Strümpfe und ihre hübschesten Schuhe an. Sie schnürte sich fest, ohne ein Schnürloch zu überspringen. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie den Wunsch, möglichst vorteilhaft zu erscheinen, und sie wußte daher das Glück zu schätzen, ein neues, hübsch gemachtes Kleid zu besitzen, das ihr wirklich gut stand.
Als ihre Toilette beendet war, hörte sie die Kirchenuhr schlagen und verwunderte sich, nicht mehr als sieben Schläge zu vernehmen. Der Wunsch, genügend Zeit zu haben, um sich sorgfältig anzukleiden, hatte sie zu früh aus dem Bett getrieben. Da sie die Kunst nicht kannte, eine Haarlocke zehnmal anders zu legen und die Wirkung zu prüfen, setzte sie sich ans Fenster, kreuzte zufrieden die Arme und blickte in den Hof, auf den engen Garten und die Terrassen, die diesen abschlossen.
Das alles sah melancholisch und eng aus, entbehrte aber nicht jener eigenartigen Schönheit, die eine Eigentümlichkeit öder Landschaften und ungepflegter Gärten ist. Nahe bei der Küche befand sich ein von großen Steinen eingefaßter Brunnen, dessen Zugwinde von einem eisernen Bogen herabhing. Diesen Eisenreifen hatte eine Rebe sich zur Stütze ausersehen, und sie umschlang ihn mit welken, schlaffen, rot verdorrten Armen, denn es war Herbst. Von da schwang sich die biegsame Ranke zur Hausmauer, lief am ganzen Hause entlang und landete auf einem Holzschuppen, wo das Holz so ordentlich aufgeschichtet lag wie etwa der Bücherschatz eines Bibliophilen.
Das Pflaster des Hofes wies dunkle Flecke auf: Moos und Grasbüschel oder Unebenheiten des Bodens. Die starken Mauern zeigten ihr grünes, stellenweise braun geflecktes Kleid, und die acht Treppenstufen, die von der Tiefe des Hofes zur Gartentür hinaufführten, waren zerbrochen und ganz begraben unter hohen Pflanzen – wie das Grab eines Ritters, den seine Witwe zur Zeit der Kreuzzüge beerdigt hatte. Über einigen ausgehöhlten verwitterten Steinen erhob sich ein von der Zeit morsches Lattentor, das kaum noch in den Angeln hing, aber von allerlei Schlinggewächs üppig umrankt war. Die beiden Seiten der Tür wurden von den gewundenen Ästen zweier verkrüppelter Apfelbäume eingerahmt. Drei parallel laufende, kiesbestreute Wege trennten die von Buchsbaum eingefaßten Beete; am
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