Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
noch völlig, denn ich weiß bis heute nicht, welche genauen Konsequenzen dieser Fluch hat. Ich gebe mich so gelassen ich kann, doch ich denke immer wieder darüber nach. Doch wenn ich an Konrad denke, dann nicht nur an den schrecklichen und aufbrausenden Konrad. Nein. Ich komme nicht umhin, mich auch an den verzweifelten Konrad zu erinnern, dessen Seele seit Vios Tod zerrissen und verloren ist. Ich empfinde diese Zerrissenheit ebenfalls, wenn ich an Konrad denke. Ich glaube, es ist einzig und allein der Gedanke daran, dass ich niemals glücklich mit Sam sein werde, der Konrad am Leben erhält. Auf der einen Seite berührt mich sein Schmerz um Vio tief und auf der anderen Seite lässt mich das Unberechenbare und Zerstörerische in ihm zurückweichen – aber zieht mich zugleich auch an. Ich verstehe selber nicht, was da genau in mir vorgeht. Ich weiß nur, dass ich mich damit nicht abfinden werde, solange es noch in mir die Hoffnung gibt, doch noch alles zum Guten zu wenden
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Wir sind Freitag nach der Schule direkt losgefahren und kamen am Abend an. Vor unserer Pension wartete bereits Nicole, Sams Schwester. Ich war ziemlich nervös sie zu treffen. Hätte ich nicht gewusst, dass sie ein Vampir ist, hätte ich mich spätestens bei unserem Aufeinandertreffen gefragt, ob diese Erscheinung ein Mensch sein könnte. Nicole ist einfach perfekt, genau genommen perfekter als perfekt. Gegen sie hätten alle »Sports Illustrated Models« einpacken können. Nicole ist die vollkommene Mischung aus durchtrainierter Sportlerin und makellosem langhaarigen blonden Model. Am Anfang war ich zugegeben ein wenig eingeschüchtert, aber das legte sich schon recht bald, denn sie scheint sehr nett zu sein. Sie hat uns dann erzählt, dass sich Konrad tagsüber in Berliner U-Bahn-Schächten aufhält. Dort konnte ihm das tödliche Tageslicht nichts anhaben. Ohne sein Amulett kann er sich nur noch nachts nach draußen wagen. Sie zeigte uns Artikel aus einigen Berliner Zeitungen, die Konrads Blutrausch dokumentierten. Es wurden schon 16 verstümmelte Leichen gefunden, doch die Polizei tappt bis jetzt im Dunkeln, hat keine Hinweise nach wem, oder was sie suchen müssen. Curlys Mutter ist bereits auf der Suche nach Konrad. Eine Klatschzeitung betitelte die Vorkommnisse mit »Berlins Jack the Ripper«. Eines konnte ich ganz deutlich an Konrads Verhaltenablesen: Verzweiflung. Und ich glaube so ging es auch Sam, Curly und Nicole
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Am nächsten Tag haben wir die Pension sehr früh verlassen. Sam war die ganze Nacht unterwegs gewesen. Ich fragte ihn nicht danach, wo er war. Seine Hand war jedenfalls angenehm warm, als er mich durch einen Volkspark führte, vorbei am Dresdener Zoo bis zur Südvorstadt. Die Straßen und die Häuser weckten keine Erinnerungen in mir. Wie sollten sie auch? Durch die Bombenangriffe war alles zerstört worden und nichts in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Und trotzdem war da wieder das gleiche Gefühl wie damals, als ich in dem Buch die Bilder von Dresden sah. Ich fühlte mich absolut heimisch. Ich weiß nicht genau, ob man es versteht, wenn ich sage, dass meine Augen zwar eine fremde Umgebung sahen, aber ich diesen Ort trotzdem wiedererkannte. Und dann plötzlich sah ich sie: Die »Lukaskirche«. Die gleiche Kirche wie aus meinen Träumen. Die Kirche aus meiner Erinnerung. Ich war schockiert, verwirrt, aufgewühlt… einfach alles, als ich Sam und Curly sagte, dass ich mich erinnern konnte. Ich war so aufgeregt. Sam zeigte mir dann die wiederaufgebaute Schule, die sich nur wenige Meter entfernt befand. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, den Ort zu sehen, an dem man gestorben ist? Ich war erleichtert, dass eine Bank auf dem »Lukasplatz« stand, auf die mich setzen konnte. Ich brauchte eine Weile, bis ich diese Konfrontation verdaut hatte. Immer wieder blitzen Bilder aus meiner Vergangenheit vor meinen Augen auf. Es war fast so, wie bei einer Diashow. Mehr und mehr Einzelheiten fielen mir ein. Ich konnte mich an meine Beziehung zu Sam erinnern, an gemeinsame Spaziergänge, den Tanztee. Es war so unbeschreiblich wie auch unbegreiflich. Hier hatten wir uns das letzte Mal gesehen. Unsere Sehnsucht war stärker als die Angst vor dem Tod gewesen. Unsere Zuversicht stärker als alle Bomben, die wir schließlich mit unserem Leben bezahlten. Ich wusste, dass es nicht Sams Schuld war. Das Schicksal hatte unsere Pläne durchkreuzt Und noch immer sind wir durch die damalige Fügung untrennbar miteinander
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