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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
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nichts zu verändern, durch die Schule, die Schulzeit zu eilen und zu hoffen, dass der Schmutz, der von ihren Schuhen abgefallen ist, von irgendeiner Putzfrau aufgekehrt wird. Keiner wagt, etwas zu verändern. Das Haus könnte einem auf den Kopf fallen, wenn man einen Stein aus dem Fundament nimmt. Nur deshalb steht das Schulgebäude noch. Angefüllt mit Schmutz und Schweiß und Emotionen, auch wenn sie in die Ritzen gefegt wurden oder unter den Pulten vor sich hin faulen, man ignoriert den Geruch, das reicht, um die Illusion aufrechtzuerhalten.

    Kein Schrei war zu hören, als ich dort stand und versuchte, einzutreten in den Kreislauf. Ich sah auf die große Uhr. Die Zeiger drehen sich immerwährend – gefesselt an die Uhrenmitte – in der Illusion des Fortschritts. Sie stecken hinter ihrer Glasplatte, werden begafft wie die Affen im Zoo, ein künstlicher Tierpark, ein Schauspiel, angetrieben von versklavten Zahnrädern in einem eisernen Kasten und von den schiebenden, zerrenden, hoffenden und verzweifelten Augen der Schüler. Jedes Tick ist ein Urteil, jedes Tack der Todesspruch. Oder etwa nicht? Ging es nur mir so, die ich hier in der Aula stand, nicht Fisch und nicht Fleisch, nicht Passant und nicht eingebunden ins Schulgeschehen?
    Ich hätte mich jetzt entscheiden können. Gehen? Bleiben? Wieder normal sein? Jonas sehen und die anderen und ihnen erklären, wo ich war, die letzten Monate? Nie wieder die Briefe der Schule abfangen und vor meiner Mutter verstecken? Nie wieder lügen?
    Das Lehrerzimmer liegt der obersten Treppenstufe genau gegenüber. Heilig. Nicht für dich bestimmt, Schüler. Du bist ein Mikroorganismus, eine Mikrowellenpizza, bevor sie aufgeht, mickrig, nicht der Aufmerksamkeit wert. Sie haben mich bereits vergessen. Sonst hätte doch irgendwer nach mir gefragt, ein Lehrer hätte angerufen, ein Schulpolizist hätte irgendwann geklingelt oder meine Mutter in der Arbeit aufgesucht, statt nur Briefe zu schicken, die ich problemlos abfangen konnte, ich war ja zu Hause, nicht sie, ich habe die Briefe gelesen und unter mein Bett gelegt, aber niemand hat nachgefragt. Die kümmern sich nicht darum, ob ich komme oder wie es mir geht. Die sehen mich ja nicht einmal. Tritt nicht auf mich, Herr Lehrer, wenn du erregt von deiner wohlverdienten Bierpause aus deiner Lehrerhöhlenhölle stürzt, noch ganz begeistert, dieses Gespräch mit den
Fachkollegen hat dich erfrischt, deine Arroganz ermuntert, du bist der verkannte Einstein deines Gebiets, aber trotzdem ist es nett, mit den Fachidioten so richtig über das Einzige zu lästern, das noch widerlicher ist als du: Schüler. Pubertäre Dummköpfe, die man im Rudel aufeinanderhetzen kann. Ein Spruch von dir, und das zerrupfte Omegahuhn der Klasse ist am Ende. Und die anderen lachen, lachen dein Selbstbewusstsein in unermessliche Höhen. Siehst du mich? Kennst du mich noch? Ich habe auch mal dagestanden vor dir an der Tafel, wusste nicht, was du hören willst. Was ich sagen soll. Was richtig ist. Nichts. Ich war ein Nichts für dich, ein kleines Mädchen mit Tränen in der Kehle, in den Augen – und du hast weitergemacht, immer weiter.
    »Guten Tag, Herr Bauer.«
    Lauf weiter, lauf doch weg vor mir, ich verbreite die Seuche des schlechten Gewissens.
    »Ich bin es. Ich war letztes Jahr in Ihrer Klasse.«
    Eigentlich ja kein Punkt. Lauter Fragezeichen, ich will immer noch, dass du mich liebst, mir Anerkennung schenkst und mich leben lässt.
    Du kannst mich nicht mehr verdrängen, Lehrer, ich bin da.
    »Oh, Tag.«
    Kein Name. Nie ein Name für einen Schüler, so wie man dem Steak keinen Namen gibt, das man gleich verschlingen wird. Gesichtslose Zielscheiben für deinen Zynismus. Direkt ins Schwarze. Bravo, Herr Lehrer.
    Was wird er wohl sagen? Er muss jetzt irgendetwas sagen, ich will es so, ich lasse ihn noch nicht gehen. Sagt er wohl noch einmal Hallo? Fragt er mich, was ich hier mache? Fragt er, wie es mir geht?
    »Ich habe von dieser Geschichte mit deinem Vater gehört. Scheußlich, was so passiert.«

    Es passiert nichts.
    Es ist nie etwas passiert.
    Es wird nie etwas passieren.
    Genau in diesem Augenblick wusste ich, dass ich es nicht mehr aushalten kann. Will. Muss. Ich muss das nicht mehr ertragen. Ich bin ein freier Mensch, nicht nur irgendeiner, sondern der freie Mensch an sich. Ich bin ein Vogel. Dazu gemacht, über die Dächer der Kerker, die sie Häuser, Schulen, Büros nennen, zu fliegen. Etwas, das Flügel besitzt, soll nicht in Käfigen sitzen und

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