Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
aber er liebte diese Hefte. Ich konnte ihn mir so gut vorstellen, wie er schon den ganzen Tag über im
Büro daran dachte, dass heute wieder eine neue Ausgabe auf ihn wartete, wie er, sobald die Zeitanzeige in der Ecke seines Computermonitors ihn entließ, die Blätter auf dem Schreibtisch akkurat stapelte und andere ordentlich in verschiedene Abteilungen seiner Ledertasche legte, liebevoll ein Fach für die Zeitschrift freiließ, sich von dem Fräulein am Ausgang verabschiedete und erst auf der Straße, auf dem Weg zum Bahnhof, gegen die Böen kämpfend in den beigen Trenchcoat schlüpfte, wie ein Agent in geheimer Mission. Ich konnte mir denken, dass seine Wangen im Zug anfingen, sich zu röten, ein kleiner Junge, der sich auf Weihnachten freut, und dann, endlich im Kiosk angekommen, wieder ganz Mann, erst umsehen, in den Auslagen blättern, die Vorfreude verlängern, bis er – ach, die neue Ausgabe ist schon da! – es nicht mehr aushielt. Aber er würde sich immer noch zurückhalten, das Heft liebevoll streichelnd in die Tasche gleiten lassen, bloß nicht knicken; ganz gerade und den ganzen Weg nach Hause zu Frau, Kind und Abendessen würde er unbewusst die Tasche stärker an sich drücken, den kleinen Schatz liebkosen und schützen wollen.
Ich saß meistens am Fenster, ich konnte sehen, wann er sich eine englische Neuerscheinung gegönnt hatte, die waren schwerer, und er konnte seine Tasche aufgrund des Gewichts nicht ganz so energisch durch die Luft schwingen, die englischen Experten ließen sich gerne ausführlich über ihre Leidenschaften aus. In der Wohnung legte er die Beute auf dem kleinen Couchtisch auf Kante, symmetrisch mit den Ecken des Tischchens, mit den beiden Sofas daneben, mit seinem Lebensgefühl. Sicherheit durch Ordnung. Da lag es dann, und wie ein praktizierender Christ in der Bibel, so las er jeden Tag nach dem Essen bei einer genau bemessenen Dosis schwarzen Kaffees einen Artikel, dabei nickte er leicht
mit dem Kopf, als ob die Professoren auf ein Urteil warteten, das nur er ihnen geben konnte.
Sie waren ihm heilig. Ich habe sie dafür gehasst. Eines Tages kam ich unerwartet früh von der Schule nach Hause, meine Mutter, die damals noch nicht beweisen wollte und musste, dass sie die perfekte Frau, eine Frau aus den Illustrierten ist, indem sie fünfundzwanzig Stunden am Tag arbeitet, war beim Einkaufen, und ich sah die Schätze meines Vaters dort liegen, inmitten meines Wohnzimmers, als ob es ihnen gehören würde, so dominant mit ihrer Schlagzeilenintelligenz und den Bildern aufgeschnittener Nieren auf der Titelseite. Zuerst dachte ich an eine rituelle Verbrennung im Mülleimer unter meinem Schreibtisch, doch dann fiel mir ein, dass die dicken Seiten sicherlich viel Rauch produzieren würden. Mich wie eine indische Witwe mit den Heftchen meines Vaters umzubringen, wäre doch etwas dramatisch gewesen. Auch die Idee, alles Papier in die Toilettenschüssel zu stopfen und den Ratten in der Kanalisation neuen Lesestoff zukommen zu lassen, gab ich auf, ich wollte ja, dass mein Vater Indizien für das Opfer fand, Blut und Knochen und Fetzen von Rabattbeilagen. Bei Abonnement zwei Ausgaben gratis. Also blieb mir nur Verstümmelung.
Ich holte eine dieser Zickzackscheren, mit denen man im Kindergarten Weihnachtskarten für die Großeltern verziert, und schlug mein erstes Opfer willkürlich auf. Es war eine der populärwissenschaftlichen Lektüren mit vielen Bildern und dem Versprechen, alle der darin vorgestellten Projekte wären brandneu, und ihre Ergebnisse würden auch mein Leben revolutionieren. Aber eines der Fotos, das eine ganze Seite einnahm, hielt mich davon ab, kleine Papierschnitzel daraus zu machen. Abgebildet war ein Mädchen, kaum älter als ich, das eine Hand ausstreckte und mit ihren Fingerspitzen ihr
Ebenbild in einem verstaubten oder vernebelten Spiegel berührte.
Aus irgendeinem Grund berührte mich die Geste, und ihr Blick, den ich heute verhangen nennen würde, erinnerte mich an eine tragische Prinzessin aus einem Märchenbuch, dessen Illustrationen ich als Kind oft vor dem Zubettgehen betrachtet hatte. Hier war sie wieder, die dramatisch-schöne Gestalt aus meinen Kleinmädchenträumen. Ich brachte es einfach nicht über mich, die Person, die ich gern selbst gewesen wäre, zu zerschneiden.
Außerdem faszinierte mich die reißerische Überschrift: »Neue Theorie: Sind wir alle schizophren?«, die den dazugehörigen Artikel auf der gegenüberliegenden Seite anpries wie eine
Weitere Kostenlose Bücher