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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
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Marktschreierin ihre Ware. Also las ich.
    Ein Physikprofessor, dessen Namen ich vergessen habe – natürlich, als böses Mädchen habe ich null Merkfähigkeit –, hatte folgendes Experiment einer gierigen Meute von Studenten und Pressevertretern vorgestellt: Man sperre eine Katze in einen Karton. Dieser sei vollkommen schall- und blickdicht. Nun schieße man auf den Karton. Na ja, ich glaube, nicht der Professor hat auf die Katze geschossen, nicht absichtlich, sondern ein Atom hat sich verschoben, und dadurch ist das Gewehr losgegangen. Aber letztendlich ist mir das egal. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, Eindruck hat auf mich damals nur gemacht, dass auf den Karton geschossen wurde – egal wie. Auf den Karton, in dem die Katze steckte. Auf die eingesperrte, hilflose Katze.
    Ab dieser Stelle wusste ich, dass dieser Artikel meinen Blick auf die Welt verändern würde. Oder nur meinen Glauben an dieselbe.
    Nun, so erklärte der Professor, wüsste man nicht, ob die Katze in der Kiste tot sei oder noch am Leben. Bis man den
Kartondeckel hob, schwebe diese also in einem Zustand zwischen Leben und Tod.
    Und genau so fühle ich mich jetzt.
    Wie die Katze, die gerade sieht, wie sich eine Kugel durch die papierene Dunkelheit bohrt, das Gefängnis für eine Sekunde hell wird und ein Reißen die Haare in den feinen Katzenohren sich aufstellen lässt. Ich weiß nicht, ob ich nicht sterben werde. Ob ich schon tot bin. Keiner hat bisher nachgeschaut.
    Genau so sei es mit der Beschaffenheit der Atome, hat der Artikel weitererklärt. Niemand könne genau sagen, ob oder welche Atome in einem bestimmten Augenblick existierten. Es gäbe zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass alle Atome des Körpers von, sagen wir, Susi, momentan an genau der Stelle sitzen, an der auch Susi sitzt, aber vielleicht befänden sie sich auch an einem ganz anderen Ort, zum Beispiel auf der anderen Seite der Erde oder im All oder in einem schwarzen Loch.
    Ich fühle mich auch wie Susi. Die arme Susi, die auf einer Bank sitzt, ahnungslos glücklich im Park die Sommersonne genießend, und plötzlich löst sich ein Atom aus ihrer Nasenspitze, nein, es ist einfach nur plötzlich weg, alle sehen es, nur Susi nicht, doch irgendwie beschleicht sie das Gefühl, nicht ganz komplett zu sein. Und im Eiswasser der Antarktis schwimmt plötzlich ein Nasenatom, ebenso hilflos und undefiniert wie die Katze – kurz vor dem Sterben oder kurz vor der Wiedervereinigung mit dem Restkörper, niemand weiß es, kein Physikprofessor der Welt.
    Ich weiß nicht, wo meine Atome sind, die Teile, die bestimmen, wer ich bin, die ich im Spiegel betrachten kann, und die, die ich hoffentlich nie sehen muss. Ich weiß nicht genau, wo sie sein könnten.

    Kauern sie noch unter dem Schreibtisch? Dunkel und abgeschirmt von allem Ungewissen, aber eben dadurch sicher, versichert dadurch, dass ich spüren kann, wie ein paar von ihnen in der Wangengegend nass und salzig werden, sind sie das?
    Oder sind sie schon dort draußen, auf dem metallenen Fenstersims? So schmal die Grenze zwischen warmer Mieze und kaltem Haufen aus Fleisch und Fell. Unsicher, doch nicht allein wären meine Teilchen dort, denn neben ihnen kauert sie, die Taube, meine Freundin. Meine einzige liebe Freundin sitzt dort. Vor meinem Fenster.
    Ich kann sie von hier aus sehen.
    Ganz still sitzt sie auf dem Fensterbrett. Auf einem schmalen Sims, vielleicht zehn Zentimeter breit, ich war noch nie gut darin, solche Dinge abzuschätzen, aber ich kann seine Breite fühlen, den Abstand zwischen kaltem Glas und gähnendem Abgrund.
    Wieso gähnen Abgründe? Schreien sie nicht eher oder lachen, gehässige Monster, die sie sind, beutegierige Schlünde? Oder weinen sie wie die Kinder, laut und schamlos, die Augen zusammengekniffen und den Mund aufgerissen, um alles Elend hineinzusaugen, vor lauter Wut, immer der Gähnende sein zu müssen, wer hat schon jemals von einem rettenden, einem freudespendenden Abgrund gehört?
    Ich möchte jedenfalls nicht diejenige sein, die jetzt, in diesem Moment, in die Tiefe glotzen muss. Ich bewundere die Taube sehr, niemals könnte ich so still sitzen. Entweder sie ist sehr dumm oder sehr mutig.
    Oder sie fühlt einen Drang, dort zu kauern, eine Stimme, die ihr ohne den üblichen Umweg durch das Ohr direkt ins Gehirn flüstert: »Setz dich an den Rand …«
    Nur ruhig bleiben und atmen, nicht bewegen.

    »Klammere dich mit aller Macht fest …«
    Das Fensterbrett ist etwas glatt, ewig glatt in

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