Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
damit umgehen wie sonst keine. Es war eben typisch Jonas.
Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, wer Jonas eigentlich ist. Vielleicht ist das T-Shirt immer noch eine Warnung. Soll ich dann überhaupt mit ihm reden?
Ich lache. Seltsam hohl. Muss am Kaufhausecho liegen. Oder an der trockenen Luft.
Er lacht nicht. Schaut auch nicht weg wie ich, kostet die Stille aus, die mir peinlich wird.
»Na ja, also, was machst du so?«
Dumme Frage. Dummes Mädchen. Wo ist denn dein ganzes Kommunikationstalent hin verschwunden? Das ist doch nur der Jonas, da kann nichts passieren. Er wird dich nichts fragen.
Wieso hat er mich überhaupt angesprochen? Warum erzählt er denn nichts von sich? Ich möchte natürlich trotzdem
alles wissen. Welche Lehrer sie dieses Jahr haben. Wer neu dazugekommen ist. Ob sich irgendjemand verändert hat. Wie es ihm geht. Was er denkt, wenn er mich sieht. Was er gedacht hat, als ich nicht zurückgekommen bin. Ob irgendein Lehrer eine Rede gehalten hat, nach dem Motto: »Kinder, wir müssen jetzt alle Rücksicht auf Anita nehmen. Es ist eine ganz normale Sache. Aber es tut weh, und solche Wunden brauchen Zeit, um zu heilen.« Ob die anderen geklatscht haben. Ob sie sich gefreut haben, dass ich weg war. Oder ob sie auf ihre Tische gestarrt haben. Ob mich jemand vermisst hat.
So viele Fragen, und ich bekomme sie einfach nicht heraus. Mein Hirn muss verklebt sein. Sagte ich schon, dass das Klima heute anstrengend ist? Man könnte glatt in Ohnmacht fallen, mitten zwischen den Kleiderständern und den Wühltischen, einfach so auf den Boden gleiten wie ein Seidensari. Sich auflösen in Schweiß und Gummihaut, ohne einen einzigen Knochen. Nur noch Blut, das rhythmisch pocht, lauter als die Klaviermärsche der Kaufhausdamenabsätze.
»Jonas, wollen wir uns irgendwo hinsetzen und ein bisschen reden?«
Keine Zustimmung außer einem leichten Nicken, er kann sich auch den Nackenmuskel gedehnt haben. Aber er folgt mir, scheinbar hatte auch er kein festes Einkaufspensum abzuarbeiten. Seine Mutter ist berufstätig, er hat ein genauso leeres Zuhause wie ich. Obwohl die Daumen, die er in die Gürtelschlaufen seiner Jeans gesteckt hat, Gleichgültigkeit vortäuschen, liegt sein Blick eine Sekunde zu lange auf mir, und ich sehe das Prüfende, das Musternde, das beinahe Mitleidige, als ich mich am Absatz der Rolltreppe umdrehe, bevor er den Nebel der Gefühllosigkeit vor die braunen Pupillen hängen kann.
Wir fahren den Weg zurück durch die Klon-Etagen. Früher hätten wir dabei nebeneinander gestanden, hätten uns auf das Geländer gesetzt, versucht, gegen den Strom der fließenden Stufen zu laufen und immer auf einer Stelle zu bleiben. Das haben wir nicht geschafft. Wir sind beide weitergefahren, seit dem letzten Schuljahr. Oder bin ich ausgestiegen, hat mein Stufenfluss doch ein Ende bekommen, bin ich ans Ufer geklettert, an einer Etage gestrandet?
An den großen Glastüren am Ausgang bläst mir die Heizungsluft das Haar durcheinander. Durch einzelne Strähnen kann ich erkennen, dass sich das kleine Lachgrübchen an Jonas’ Kinn immer noch bildet. Er lächelt. In sich hinein. Dieser kleine Lachpunkt ist für niemand anderen da als für mich, nur ich weiß, was ihn hervorruft: mein Haar.
Jonas liebt mein Haar und damit vielleicht auch ein bisschen mich. Keiner darf das wissen, natürlich. Aber es macht mich unglaublich dankbar, dankbar dafür, dass er mir immer treu sein wird, immer da sein wird, an meiner Seite, stumm lachend, mit all seiner Liebe, eingelagert in einem Grübchen. Ich liebe ihn auch. Nicht begehrend, nicht fordernd, aber so, dass es wehtut, wenn ich ihn nicht sehe. Erst jetzt, hier im Gebläse, während um uns die stummen Tütenfrauen hinein und hinaus drängen, merke ich, wie schmerzhaft die letzten Monate waren. Ich sollte wirklich wieder in die Schule gehen. Wieder ein normales Mädchen sein. Das ist weniger anstrengend. Einmal nicht Göttin sein müssen. Einmal nicht perfekt. Und selbst wenn ich doch wieder perfekt sein müsste, für die Mitschüler, die Lehrer, für alle, die mir in den Gängen hinterherstarren sollen; zurück in der Schule zu sein, wäre die Anstrengung wert. Ich könnte Jonas jeden Tag sehen. Ich will ihn nicht noch einmal verlieren.
Draußen setzen wir uns mangels Bänken oder Brüstungen in den Rahmen eines Schaufensters. Damit verjagen wir ein paar Mädchen, die über ihre Fahrräder gelehnt die neuen Accessoiremodelle aus den Haute-Couture-Burgen betrachten. Als
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