Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
dieser Stadt des Regens, und außerdem ist es vom Alter, vom Wind und vielleicht vom Gewicht anderer etwas schief, abschüssig, wie eine Rutsche in den Tod, denn der wartet auf dich, irgendwo dort unten.
»Sieh ruhig hin …«
Auf dem Pflaster zu zerschellen, mit einem einzigen Knall, und nichts mehr hören, das Innere nach außen gekehrt, ein Schock für die Passanten, das wartet auf dich, doch es hat noch Zeit, darum bleib ruhig, atme, klammere dich fest, beachte nicht, was hinter der Glasfläche, der großen, grauen Glasfläche, vor sich geht.
»Brav …«
Ich will sie nicht hören, nie mehr hören, die Stimme, die in unseren Ohren dröhnt, wir sind Schwestern im Geiste, im Leid, in der Akustik, sie dort draußen, ich hier drinnen, noch ein winziger Hauch von Widerstand flattert in meinen Adern.
»Wehr dich nicht, komm, sei, was du sein willst, sei mutig, komm heraus …« So lockend, sie draußen ist mit der Stimme verbunden, ist die Stimme in persona, sie verführt mich, böse, schöne, traumhafte Prinzessin auf dem Sims, kann ich dir denn widerstehen? Kann ich mich trauen, schwach zu sein? Kann ich es mir leisten, jetzt zu versagen?
Ein Sog. Ein Hauch zuerst, eine Ahnung, die durch meine Nasenhöhlen in den Rachen fährt. Von den Mundwinkeln, den Lippen, dem ganzen Mund rauscht ein zweiter Strom in den Schlund, beide vereinigen sich, ihre Gewalt nimmt zu, stetig, langsam noch. Wie Sturzbäche fallen sie die Kehle hinunter, brausend, zischend, die Fahrt wird schmerzhaft, beengend, immer weiter hinab über Knochen und Muskeln,
durch eine rote Grotte, all die Venen und Arterien sind bis zum Zerreißen gespannt, der Schwall trifft auf die Lunge, ein Tsunami trifft auf einen Küstenstreifen, die Lungenbläschen hallen wider von dem Drang, dem unbezwingbaren Wahn, der mich befällt. Hinaus. Die Scheibe wird aufgedrückt von meinem Willen, der Macht meiner inneren Stimme. Ehe ich denke, denken kann, entdecke ich meine Füße auf dem Brett neben ihr. Jetzt ist sie die Hilflose, sie sitzt, ich bin so unendlich größer als sie. Und ich wachse weiter, meine Arme werden länger, immer länger, flaumig, fedrig, die Arme eines Engels. Nein, nicht irgendein Engel, sondern DER Engel, der einzige, der Cherub, die Herrscherin der Herrlichkeit.
Und ich springe. Fliege. Gleite zu Boden, vom Stoff meines Kleides umflattert, die Haare, einem Schwarm Bienen gleich, hinter mir her, flirrend, glitzernd, das Licht und die Luft durchschneidend, und immer weiter abwärts.
»Komm zu mir, komm in mich, sei ich; sei, was du sein willst …«
Dort unten also steht sie, die Wächterin der Hölle, und wartet, dass meine Fahrt ein Ende hat. Dort steht sie und fliegt auf mich zu, nein, ich bin es doch, die fliegt und fällt, an deren Kleidern der Wind zerrt. Trotzdem ist sie die Herrin des Windes, ihr Mund ist so groß, ihre Lippen sind so voll; dirigiert sie den Chor der tausend Stimmen, die mich tragen, nach unten, ewig nach unten, und die mich so zu ihr hinziehen? Sie ist perfekt. Sie ist nicht Anita. Sie ist die Göttin.
»Ich begehre dich …«
Nein. Ich werde der Stimme nicht Folge leisten. Ich bin hier. Du bist hier, Anita, bist Anita und am Leben. Ich bin nicht gesprungen. Dafür bin ich zu intelligent. Oder?
5
PRIMITIVE RITEN
Ich habe Blut geleckt. Habe es aus den Fasern meines Fleisches gesogen, Tropfen für Tropfen aus meinem Oberschenkel, aus Herzenstränen.
Ich habe aufgehört zu heulen und bin unter meinem Schreibtisch hervorgekrochen wie ein Bär aus seiner Höhle, zuerst geblendet, dann abgestumpft vom Licht. Meine Kleider musste ich ausziehen, zu viele, alle Fragen steckten in ihnen. Ich habe mich nackt in die Mitte des Zimmers gesetzt und weiter der Taube zugesehen bei ihrem Nichtstun. Sie still draußen, ich still drinnen. Ich habe gedacht, sie sei meine Seelenverwandte, wenigstens eine, die mich liebt und versteht. Nachdem sie mich doch alle verraten haben. Mein Vater. Meine Mutter. Jonas. Es ist nicht besser geworden, obwohl ich in der Schule war. Danke für den Tipp, Jonas. Danke, aber nein, danke. Ich will da nicht mehr hin. Und nicht einmal du kannst mich zwingen. Ich werde dich damit verlieren, Jonas? Das nehme ich in Kauf. Habe ich wirklich gesagt, du bedeutetest mir etwas, irgendetwas? Ich liebte dich? Ich liebte dich. Aber du hast mich verraten. Du hast meine Haut zum Bersten gebracht, so dass alles offen daliegt. Meine Innereien liegen auf dem Schulweg verteilt, ich habe sie im Laufen verloren wie
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