Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
tränen. Doch sie sagt nichts, schimpft nicht wegen meiner Knauserigkeit. Sie holt einen anderen, dessen Abbildung auf der Papierpackung babyblauer, plastikartiger, billiger aussieht. Egal.
Die Apothekerin hat mir einen Zettel in die Packung gesteckt, es war eine handschriftliche Nachricht, das habe ich gesehen. Außerdem gibt sie mir ein paar Traubenzucker, damit ich nicht noch einmal umfalle. Früher habe ich auch immer Traubenzucker bekommen, wenn ich meine Mutter bei einem Einkauf in der Apotheke begleitet habe. Und Magazine mit Postern von Walen oder dem Käfer des Jahres. Und jetzt habe ich einen Schwangerschaftstest in der Plastiktüte unter meiner Jacke. Ich glaube das nicht. Ich glaube das alles nicht.
Im nachlassenden Regen warte ich auf den Bus. Die Lichter sind wieder sichtbar, durch die Dunkelheit des einbrechenden Abends werfen sie lange Bahnen auf das nasse Pflaster. Die Reifen des Busses zischen und schieben Wasser gegen meine Schienbeine. Ich umklammere die Tüte mit beiden Händen. Als kleines Häuflein Elend besteige ich den Bus. Auf den vordersten Plätzen sitzen die zwei alten Damen. Auch sie haben ihren Tagesauftrag erledigt und kehren zurück in die Stille. Sie würdigen mich keines Blickes.
12
REIFEPRÜFUNG
Ich bin zwei.
Ich bin im Begriff, mich zu vervielfältigen.
Ich bin dazu bestimmt, mich zu vervielfältigen.
Ich trage ein Kind unter dem Herzen.
Ich sitze immer noch hier, auf dem Boden meines Zimmers, auf demselben Parkett, auf das vor vielen Tagen meine Blutstropfen gefallen sind. Ich habe Bäche und Meere geblutet und geweint. Ich dachte, ich hätte Probleme. Ich dachte, ich wäre zu bemitleiden. Weil mein Vater uns verlassen hat. Weil ich psychisch leide. Weil ich physisch leiden wollte. Aber ich war nur in einem selbstherrlichen Schneewittchentraum. Ich bin jetzt wach. Kein Prinz in Sicht. Ich bin immer noch allein.
Oder eben nicht. In mir regt sich nämlich etwas und will wohl geboren werden, will raus aus der Bauchhaut. Will sehen, will atmen, will schreien. Will geliebt werden. Der blaue Teststreifen auf dem Plastikstab sagt es. Hätte ich bloß doch den teureren genommen. Den präziseren. Das kann doch alles gar nicht sein!
Was gestern noch ein Spiel war, ist gerade etwas zu real. Zu nah. Ich will das alles nicht.
Ich habe den schwarzen Nagellack schon fast vollständig abgekaut. Einzelne Splitter kleben an meinen Lippen, stechen
mich mit ihren winzigen Kanten und bleiben als dunkle Eisschollen in den Rissen meiner Haut kleben. Aber das kümmert mich nicht. Mein Image der Bösen, der Rücksichtslosen, der Unbekümmerten bröckelt. Jetzt kümmert mich das. Sehr.
Es ist mein Baby. Da drin ist mein Baby.
Ich möchte wieder umfallen und diesmal bleiben in dieser Parallelwelt, in der man nichts hört, nichts sieht, keinen metallischen Geschmack auf der Zunge hat und keinen Druck im Nacken. Watte überall.
Kein Becher mit Urin in der Hand und kein Plastikstab in der anderen. Alles fallen lassen.
Aber das darf ich nicht. Ich bin Mutter und trage damit nicht mehr nur für mich allein die Verantwortung.
Als hätte ich das je gekonnt. Schau mich doch an, mein Kind, ich konnte noch nicht mal ein perfektes Mädchen sein. Wie soll das denn erst werden, wenn wir zwei sind? Das kann doch nicht funktionieren! Das geht doch niemals! Ich werde genauso versagen wie meine Mutter. Das kann ich doch niemandem antun, dasselbe Schicksal wie ich zu haben, eine Mutter, die keinen Mann halten kann und kein Kind lieben.
Aber ich würde es doch lieben. Ich werde es doch lieben. Sie.
Ich glaube, es wird eine Sie.
Und gleichzeitig kann ich noch nicht einmal fassen, dass ich schwanger bin, sein soll, nein: bin.
Ich weiß trotzdem, es ist in mir.
Ich allein weiß es.
Ich muss es meiner Mutter sagen. Das wäre ganz einfach. Gestern ist sie früher gekommen, als ich erwartet hatte. Deshalb mache ich den Test heute. Jemand in der Arbeit hat sie gefragt, was wir denn unternehmen würden in den Ferien.
»In welchen Ferien?«, hat meine Mutter gefragt. Sie ist nach Hause gekommen und war sauer oder verwirrt oder beides, weil ich ihr nicht erzählt hatte, dass momentan Schulferien sind. Ich wusste es ja auch nur über Melanie. Und hatte kein Interesse, es meine Mutter wissen zu lassen. Denn für sie heißt Ferien: Familienzeit. Sie hat sich den Rest dieser Woche freigenommen. Es ist ja nicht mehr lange, glücklicherweise. Außerdem habe ich so einen ehrlichen Grund, nicht mit Melanie weggehen zu
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