Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
wird mir ins Gesicht gepeitscht, fließt von meiner Stirn über meine Wangen in meine Nase, meinen Mund, meine Ohren, den Kragen. In meinem Bauchnabel bildet sich ein kleiner, kalter Weiher. Über meine Wirbelsäule fließt ein Kanal, jeder Wirbel eine eigene Staustufe. Meine Kleider sind so klebrig, dass ich mich nackt fühle, keine Falten mehr, die flattern, beben, ich bin ein Fisch, glatt und
stromlinienförmig. Ich bin glücklich. Keiner kann mich aufhalten. Ich eile an Autoschlangen vorbei, rase um diesen Block und um jenen Kreisel, renne und schaffe eine grüne Ampel um Haaresbreite. Ich bin besser als jeder Bus.
Da ist das verschnörkelte A. A für Apotheke. A für Angekommen. A für Antwort.
Will ich denn eine klare Antwort?
Ja?
Ja.
Und doch stehe ich hier wie angewurzelt. Wieder ein Schritt, der mich von der Zukunft trennt. Schaffe ich es einzutreten? Nicht eine Schulklasse erwartet mich, sondern Arzneimittel. Medizinische Kosmetika. Halsbonbons und ökologische Gummibärchen. Die bunten Packungen hinter der Glastür leuchten durch die Tropfen. Das A blinkt. Zwinkert mir ein Willkommen zu. Ich nehme allen Mut zusammen, wringe meine Jacke und das Haar aus und trete ein.
Ein Glöckchen klingelt, und die Tür fällt langsam und flüssig wieder ins Schloss. Direkt neben dem Eingang steht eine große Waage, daneben beginnen die Regale mit Süßigkeiten und rezeptfrei erhältlichen Arzneimitteln. Eine hölzerne Theke erstreckt sich über den gesamten hinteren Bereich des Ladens. Zwischen Regalwänden kommt eine gutmütig lächelnde Frau mit einem grauen Dutt auf mich zu. Ihre Brille trägt sie an einer silbernen Gliederkette über ihrem weißen Kittel. Für einen Moment steht sie einfach da, eingerahmt von den Regalen aus hellem Holz. Die kleine Frau macht mir keine Angst, und ich beschließe, ihr zu vertrauen. Ich gehe mit langsamen Schritten, bei denen das Wasser aus meinen Schuhen läuft, auf sie zu. Sie ist gar nicht so klein. Es ist ihre Zurückhaltung, ihre aufmunternde Neutralität, die sie kleiner und ungefährlicher erscheinen lässt. Bis ich bei
ihr bin, ist mir klar, dass wir ungefähr gleich groß sind. Als sie mich fragt: »Was kann ich für dich tun?«, weiß ich nicht mehr, was ich ihr antworten soll. Die Wahrheit ist so unglaublich peinlich. Die Frau erinnert mich an eine liebe Großmutter. Vor einer Großmutter kann man nicht die böse, schwangere Schulabbrecherin sein.
Was soll ich sagen?
Was kann sie für mich tun?
Was will ich hier eigentlich?
Wo bin ich?
»Es ist alles gut«, sagt eine Stimme aus dem Tunnel heraus.
»Wirklich? Was ist denn passiert? Wo bin ich?«
»Du bist in Ohnmacht gefallen, meine Kleine.«
Ich kann mich nicht zurückhalten. Die Worte brechen aus mir heraus.
»O Gott, und mein Kind?«
Ich liege auf dem Boden der Apotheke, neben mir ragen Holztäfelungen und metallene Ständer mit natürlichen Cremes auf. Die nette Apothekerin hat sich über mich gebeugt. Bei meinem Satz allerdings richtet sie sich auf, erstaunlich schnell. Ich schließe meine Augen. Ich könnte heulen.
»In welchem Monat?«, will sie wissen, sie fragt es ganz sachlich.
Ich stottere: »Ich weiß das noch gar nicht. Deshalb bin ich hier. Ich habe keine Ahnung. Bitte rufen Sie meine Mutter nicht an.«
Die darf das nicht wissen. Niemand darf das wissen.
Es ist doch noch gar nicht sicher.
Die Apothekerin möchte mich nicht sofort gehen lassen. Ich aber will nicht länger bleiben. Mein Zusammenbruch, der Verrat an meinem Kind, die Ohnmacht hat mir Angst
eingejagt. Das ist mir noch nie passiert. Das wird doch nichts heißen? Es heißt nichts.
Ich lehne den Tee im Hinterzimmer ab. Ich muss nach Hause, lüge ich. Als ob ich das je müsste.
Doch. Heute schon. Wenn ich den Test noch machen will, bevor meine Mutter von der Arbeit zurückkommt, muss ich mich sogar beeilen. Normalerweise verpassen wir uns genau: Ich gehe zum Feiern, sie kommt zum Schlafen. Und denkt wohl, ich wäre bei einer Freundin. Oder sieht sie gar nicht nach, ob ich zu Hause bin? Läuft sie an meiner geschlossenen Tür vorbei und glaubt, ich wäre im Zimmer? Aber ich werde es ja heute sehen. Heute werde ich da sein. Ob sie nachsieht oder nicht.
Der Schwangerschaftstest kostet erstaunlich viel. Ich hatte mit zwei, drei Euro gerechnet. Soll ich fragen?
Ich frage: »Gibt es denn auch einen billigeren?«
Hätte ich nur nicht gefragt. Die Apothekerin richtet sich basiliskenhaft auf, schaut mir geradeheraus in die Augen, die
Weitere Kostenlose Bücher