Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Verfall ihres Landes sehen, englisch, laut und kein bisschen patriotisch. Ich hefte meinen Blick nun auf die Glasscheibe neben mir, schaue nach draußen, auf die Häuser, die im Seitenfenster an mir vorbeischleichen. Meine Schulter ist ganz platt an der Scheibe, von außen sieht mein Oberarm dummerweise wohl gelb und verformt aus, aber ich brauche die Kälte des Glases, die über die Haut in mein Hirn steigt, will die netten alten Damen aus meinen Gedanken werfen, zusammen mit den verführerischen Jungs, die mir nichts als Probleme bereiten.
So war es aber auch nicht, nicht alle Jungen haben mich verletzt, gestört, zerstört. Ich habe ihre Liebe sehr genossen, und ich würde alles wieder tun. Immer wieder.
Der Himmel spürt mal wieder meine Gefühle, er gehorcht meinem Herzschlag, heult über den Dächern und über meinem Busdach. Ich bin aus meinem Zimmer ausgebrochen, ein weiteres Mal. Immer wieder schließt sich dort die Falle, und ich habe das Gefühl, zu ersticken in der Wohnung, in der mich die Vergangenheit einer Familie umschwebt und bedrängt. Dann muss ich fort. Aber hatte ich nicht eine gefunden, die mich vor dieser Falle bewahren kann? Wo ist Melanie jetzt? Warum bin ich schon wieder allein?
Mit meinem schwarzen Satanistennagel folge ich dem ersten Tropfen, der gegen die durchsichtige Trennwand zwischen mir und der unwirklichen Außenwelt, vielleicht auch zwischen mir und der Realität, geschleudert wurde, den erlösenden Aufschrei eines Regengusses ahnen lassend. Es nieselt. Die Stadt liegt unter einer bleiernen Wolkendecke, so dicht, dass man vergisst, es gab mal Bewegung dort oben, nicht immer diesen groben Brei, einheitlich langweilig. Jetzt ist der Himmel wenigstens tiefschwarz, jeder ahnt, dass es noch andere Farben gibt, auch schiebt schon am Horizont gelbe Luft die Wolkenfäuste vor sich her. Suchende Sonnenstrahlen blitzen in langen Bahnen bis zu den Dächern auf, tasten nach Ausbrechern, Fliehenden, nach denen, die es nicht mehr aushalten. Dann schließt die Wolkendecke sich wieder, und die Scheinwerfer sind verschwunden. Niemand verfolgt mich. Der Regen bringt mir Freiheit. Und doch ist mir immer noch so unerträglich heiß. Es war nicht nur der Alkohol.
Gestern habe ich nichts getrunken. Habe eine Zigarette nach der nächsten angezündet und dann wieder ausgedrückt.
Die Stummel lagen in Haufen auf dem Fensterbrett. Jetzt werden sie wohl aufgeweicht in den Lachen, aus dem Tabak läuft das Nikotin in braunen Schlieren. Die Filter treiben auf den Rand der Pfützen zu, stauen sich auf und fallen schließlich von dem gebogenen Ende des Metalls. Ein Moment der Schwerelosigkeit: Die Röhrchen scheinen in der Luft zu stehen, weiß, bis auf einen Kreis bräunlich-gelben Gifts in der Mitte, keine Federn und keine Schwämme, Pillen, Korallen, Steine, was sind sie? Filter. Merkwürdige Alltagsgegenstände. Sie werden unten aufschlagen. Das bisschen Wasser, was sie aufgesogen haben, wird aus ihnen spritzen und sich auf dem Boden verteilen. Und der Sturm wird sie wegtragen. Weit, weit weg.
Jetzt nieselt es nicht mehr – Perlentropfen fallen. So, wie die Schwerkraft sie lang zieht, könnten es auch Zigarettenfilter sein. Erst mit dem Schlag gegen die Scheibe neben mir ist klar: Sie sind aus Wasser. Sie platzen und verlieren alle Stofflichkeit. Laufen schräg davon, aus dem Augenwinkel kann ich ihrem Wettlauf folgen. Es gibt keinen Gewinner. Kurz vor dem Ziel treffen sie sich alle, und fortan sind sie eins. Eine Welle. Eine zweite Glasscheibe. Immer dicker wird die Wasserwand, sie lässt das Licht der Autos, die ihre Scheinwerfer eingeschaltet haben, nur als wattige Flecken durch, rote Rücklichter, gelbe Frontscheinwerfer, Tausende Kreise, die zu Blitzen werden, wenn der Bus hinter den Pkws zurückfällt. Als er abbiegt von der Hauptstraße in einen abgeschiedeneren Stadtteil, ein Wohngebiet der Luxusklasse, in dem Linden die Straßen säumen, im Frühling saftig grün, nun nur braune Novembergerippe in Laubbergen, verschwinden die gedämpften Lichter endgültig. Die verregneten Scheiben werden weiß, der ganze Fahrgastraum wird zu einer Winterhöhle. Die Stimmung schlägt um. Plötzlich sind
Alter, Herkunft und Ziel vergessen, wir sind im Hier und Jetzt, Urzeitmenschen, eine Familie. Mein Herz rückt dem der alten Damen näher. Ich lächle sie an, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie mich überhaupt sehen können. Es ist ganz still, der Regen draußen übertönt das Geräusch der Reifen, der Bus
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