Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
anderen westeuropäischen Staaten eingependelt. Beruhte sie in den 1950er und frühen 1960er Jahren noch vorwiegend auf den wirtschaftlichen Erfolgen der Anfangsjahre, so lässt sich für die Folgezeit eine gewachsene affektive, zugleich aber auch pragmatisch-interessenorientierte Bindung der Deutschen an ihr politisches System beobachten. Die Folgen des Generationenwandels, die Erfahrungen mit einer funktionsfähigen, krisenfesten Demokratie, der Zugang weiter Kreise zum Bildungssystem, Veränderungen der Beschäftigungsstrukturen und die Ausbildung neuer politischer Beteiligungsformen haben die Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1960er Jahre geprägt.
Mit dem 3. Oktober 1990 wurde zwar staatsrechtlich die deutsche Einheit vollzogen. Die in 40 Jahren deutscher Teilung gewachsenen Lebenswelten und Erfahrungshorizonte der Ost- und Westdeutschen konnten aber keinesfalls an diesem Stichtag vereint werden. Es ist nicht zu verkennen, dass immer noch eine Divergenz vorliegt, die sich vor allem als ein Reflex auf die von den Ostdeutschen als unbefriedigender empfundenen Systemleistungen darstellt. 9 Der nur langsam akzeptierte Wegfall gewohnter beruflicher Lebensmuster und sozialen Schutz suggerierender staatlicher Omnipräsenz sowie enttäuschte wirtschaftliche Hoffnungen wirken hier noch immer nach
und finden nunmehr zunehmend ihren intensiven Ausdruck in einer neuen geschichtsklitternden »Ostalgie«.
Die besondere Aufgabe der Politik in Deutschland für die nächsten Jahre wird nicht nur darin liegen, die genannten Befunde zu realisieren und im Politikgestaltungsprozess zu berücksichtigen. Vielmehr gilt es, angesichts einer sich demographisch stark verändernden Bevölkerung Handlungs-, Politik- und Problemlösungskonzepte zu entwickeln, die Konflikte zwischen den Generationen zu verhindern sowie die Legitimation von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft und damit das Fundament des deutschen Gesellschaftssystems auch künftig zu sichern. Dabei wird die deutsche Politik wohl nicht um einen Paradigmenwechsel umhin kommen: weg von einer ausschließlich durch Krisen induzierten Handlungsbereitschaft und der damit einhergehenden hektischen, oftmals nicht zielführenden Politikimprovisation hin zu einer planungs- und konzeptgestützten Politikgestaltung, die über den Tag hinausreichende mittelfristige Perspektiven bietet und damit neues Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungskompetenz der Politik schafft.
Anmerkungen
1 Diese Formulierung wurde entsprechend den Regelungen des Vertrages über die Herstellung der Einheit Deutschlands zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR am 23. September 1990 aus der Präambel des Grundgesetzes gestrichen.
2 Artikel 146, der mit Wirkung vom 23. September 1990 neu gefasst wurde.
3 Vgl. Weber, Jürgen: Das Entscheidungsjahr 1948, München 1995, S. 102 f.
4 Nur in Bayern hatte man das Grundgesetz als zu zentralistisch abgelehnt. Gleichwohl wurde die Entscheidung der anderen Länder als rechtsverbindlich anerkannt.
5 Nach einem Artikel über die Nato sah sich das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Herbst 1962 durch Bundeskanzler Adenauer und Bundesverteidigungsminister Strauß mit dem Vorwurf des Landesverrates konfrontiert. Was in der zwischenzeitlichen Verhaftung mehrerer Spiegel-Redakteure und des Herausgebers Augstein gipfelte, wurde in der Öffentlichkeit als massiver Eingriff in die Pressefreiheit bewertet und führte schließlich zum Rücktritt von Strauß.
6 Lehmann, Hans-Georg: Deutschland-Chronik 1945-1995, Bonn 1995, S. 240.
7 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2002/2003, S. 371.
8 Regierungserklärung in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bulletin, vom 11. November 1998, S. 901 – 914.
9 Vgl. Fuchs, Dieter: Welche Demokratie wollen die Deutschen? Einstellungen zur Demokratie im vereinigten Deutschland, in: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 81 – 113.
Weiterführende Literatur
GROS, JÜRGEN: Politikgestaltung im Machtdreieck Partei, Fraktion, Regierung. Zum Verhältnis von CDU-Parteiführungsgremien, Unionsfraktion und Bundesregierung 1982-1989 an den Beispielen der Finanz-, Deutschland- und Umweltpolitik, Berlin 1998. ☐ DERS./MANUELA GLAAB: Paktenlexikon Deutschland: Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, München 1999. ☐
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