Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
umfassende Union erreichen lässt.
Ein geringerer praktischer Erfolg war dem bundesstaatlichen Modell beschieden, das den nächsten Vorstoß zur supranationalen Organisation der europäischen Nationalstaaten prägte: Das Paket aus Europäischer Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischer Politischer Gemeinschaft (EPG), das nicht nur eine europäische Armee, sondern auch eine europäische
Verfassung schaffen will, scheitert im August 1954 an den Vorbehalten der französischen Nationalversammlung zur EVG. Zu groß wäre offenbar der nationale Souveränitätsverzicht gewesen, als dass er sich zu diesem Zeitpunkt mit der Unterschiedlichkeit des europäischen Selbstverständnisses hätte vereinbaren lassen.
Danach erfolgt ein Rückgriff auf das bewährte funktionalistische Modell, wenn auch diesmal mit stark föderalistischen Ausprägungen: Die Errichtung der EWG und der EAG setzt die Grundlinie sektoraler Integration fort. Die sechs Gründerstaaten der EGKS streben im Rahmen der EWG eine Zollunion an, die bestehende Handelshemmnisse abbauen und einen gemeinsamen Außenzoll ermöglichen soll. Der EWG-Vertrag schreibt außerdem das Ziel eines Gemeinsamen Marktes mit freiem Personen-, Dienstleistungs-und Kapitalverkehr sowie der dafür notwendigen Koordinierung und Harmonisierung unterschiedlicher Politiken fest. In den sechs Mitgliedstaaten dient die EAG dem Aufbau und der Entwicklung der Nuklearindustrie zu friedlichen Zwecken. Die Verhandlungen über beide Abkommen, die von den sechs Außenministern der EGKS auf der Konferenz von Messina am 1. und 2. Juni 1955 eröffnet werden und am 25. März 1957 in die Unterzeichnung der Römischen Verträge münden, bringen einen weiteren, sehr »europäischen« Charakterzug des Integrationsprozesses zum Vorschein: die Verhandlungsstrategie des Schnürens »europäischer Pakete«. Die Tagesordnungspunkte, die Interessen und Einzelkonflikte bleiben nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern werden in einen dichten politischen Zusammenhang gestellt: Die EAG kommt nur zu Stande, wenn der Gemeinsame Markt realisiert wird; die militärischen Vorbehalte der Franzosen gegen eine Ausdehnung der EAG werden nur akzeptiert, wenn die EWG angemessen ausgestattet wird. In der Verschnürung des Paketes werden selbst gegenläufige Interessen europapolitisch produktiv gemacht. Und was als Einzelvorstoß aussichtslos erscheint, kann im Gesamttableau der Themen kompromissfähig werden. Divergierende Interessen, die tief in der nationalen Identität einzelner Mitgliedstaaten verwurzelt liegen, lassen sich friedlich und konstruktiv überbrücken, wenn sie in einen Verhandlungskontext gestellt werden, der keinen Teilnehmer in der Summe als Verlierer dastehen lässt. Bis heute ist dies eines der Erfolgsrezepte der europäischen Integration, das der Mentalität eines so vielfältigen Kontinentes in besonderer Weise entspricht.
Da der Prozess der europäischen Integration nicht zuletzt ein Vehikel zur friedlichen Kanalisierung und Überbrückung nationaler Gegensätze ist, wird seine Entwicklung folgerichtig von einer Dialektik von Krise und Reform bestimmt. Ist einmal ein Status quo erreicht, tendieren die Nationalstaaten
dazu, diesen nur widerwillig aufzugeben – auch wenn währenddessen neue Aufgaben und Probleme nach einer Reform des etablierten Gleichgewichtes verlangen. Solche verschleppten oder versäumten Reformen tragen wesentlich zu den Krisenerfahrungen bei, mit denen sich die Gemeinschaft während ihrer Entwicklung immer wieder konfrontiert sieht. Krisenerfahrungen und komplexe Problemberge bringen jedoch früher oder später immer Reformanstrengungen der europäischen Partner in Gang, die der Europäischen Union schließlich ihre heutige Gestalt verleihen.
Eine erste zentrale Krisenerfahrung ist der Luxemburger Kompromiss des Jahres 1966. In der vertraglich vorgesehenen Übergangszeit sollen ab 1. Januar 1966 im Ministerrat Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit zu wichtigen Sachgebieten möglich werden. Diesen Übergang sucht Frankreich mit seiner »Politik des leeren Stuhles« zu verhindern, indem es an den Sitzungen der EWG-Gremien vom 1. Juli 1965 an nicht mehr teilnimmt. Im Luxemburger Kompromiss wird daraufhin am 27. Januar 1966 festgehalten, dass man in kontroversen Angelegenheiten den Konsens suchen soll. Falls es nicht gelingt, diesen Konsens herzustellen, geht Frankreich davon aus, dass das einzelne Mitglied eine Veto-Position besitzt, falls vitale Interessen berührt
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