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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Grundfesten des Wohlfahrtsstaats zu erhalten. Eine solche Vereinbarung scheint einigen Ländern leichter zu fallen als anderen. In Schweden und in gewissem Ausmaß in den Niederlanden funktionierte sie trotz vieler Bedenken. Anfang 1996 wurde der Wohlfahrtsstaat in Schweden reformiert; trotz heftiger Kürzungen wurde das Wesentliche bewahrt. Die Besteuerung blieb hoch, doch nach einigen Deregulierungen erreichte Schweden bei der Effizienz des privaten Sektors wie auch bei der Wertschöpfung Spitzenwerte. Die große Krise von 2008 traf Schweden weniger hart als die meisten anderen europäischen Staaten, und es erholte sich rascher. Unter diesen Umständen war das Naserümpfen in den Vereinigten Staaten und anderswo über das Versagen des schwedischen Sozialismus tatsächlich nicht zutreffend und fehl am Platz.
    In Deutschland und besonders in Frankreich gibt es beträchtlichen Widerstand gegen eine Preisgabe der Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats. Die durch die Wirtschaftskrise zugespitzte Lage machte Veränderungen jedoch dringend notwendig, trotz heftiger Proteste und Demonstrationen wie etwa gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Frankreich von 60 auf 62 Jahre. Populisten geben der Globalisierung und den Wechselfällen der Marktwirtschaft die Schuld. Doch Antworten auf die Probleme Europas haben sie nicht – wirtschaftlicher Nationalismus wird die Probleme schwerlich lösen können.
    Abgesehen von der allgemeinen Lage in Europa ist vor allem für das Generationenproblem noch keine Antwort gefunden worden. Da mehr Menschen länger leben und die arbeitsfähige Bevölkerung schrumpft, belastet das Gewicht der Ausgaben für Senioren die Jungen immer mehr, und diese Bürde wird wahrscheinlich wachsen. Ein Generationenvertrag ist nicht nur in Europa, sondern in allen entwickelten Ländern erforderlich.
    Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise von 2008 kürzten alle europäischen Länder die Ausgaben für Gesundheit, Bildung und andere Sozialleistungen. Im Vereinigten Königreich und in anderen Staaten wurden Abteilungen in Krankenhäusern geschlossen, weniger Autopsien vorgenommen und viele andere Dienstleistungen eingeschränkt oder eingestellt. Nach den Reformvorschlägen der konservativ-liberalen Koalition argumentierte die Opposition, dass die Regierung letzten Endes beabsichtige, das britische Gesundheitssystem zu privatisieren. In Deutschland war der Hauptstreitpunkt Hartz IV, ein Vorhaben zur Reform und Absenkung der Sozialhilfe, das von der rot-grünen Regierung vorgelegt und 2003 und 2004 umgesetzt worden war. Das betraf vor allem das Arbeitslosengeld. Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wurde auf einen Zeitraum von zwölf Monaten beschränkt, auf achtzehn Monate für die über 55-Jährigen, die weitaus weniger Chancen hatten, eine neue Stelle zu finden. Diese Maßnahmen trugen dazu bei, die Ausgaben einzuschränken, solange die Arbeitslosigkeit relativ niedrig war, doch mit der Krise von 2008 und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit verschlimmerte sich die Lage wieder.
    Die deutsche Regierung verabschiedete ihr Sparpaket, um die Ausgaben bei den meisten Sozialleistungen zu verringern, darunter auch beim Kindergeld. Die Versicherungen schlugen eine Reduzierung des Einkommens von Ärzten um 2,5 Prozent vor, doch da deutsche Ärzte ohnehin schon weniger verdienten als die in den meisten anderen europäischen Ländern, führte das zu Androhungen von Streiks, die dann auch erfolgten. Ähnliches ereignete sich 2011 in Griechenland, wo auch Apotheken zumachten. Im Vereinigten Königreich war lange Jahre das Einkommen von Allgemeinärzten sehr niedrig gewesen, was zur Folge hatte, dass immer weniger Medizinstudenten sich für diese Laufbahn entschieden und die Regierung sich genötigt sah, Ärzte aus anderen europäischen Ländern und sogar aus Afrika und Asien anzuheuern, mit manchmal sehr negativen Auswirkungen für die Patienten und ohne Einsparungen aufseiten des Staates. Schließlich war die Regierung gezwungen, die Vergütung für Allgemeinärzte heraufzusetzen.
    Kritiker argumentieren zu Recht, dass die europäischen Sparmaßnahmen den Wohlfahrtsstaat bedrohten, ja schlimmer noch, die Vision einer lebenswerten Gesellschaft infrage stellten. Diese Sparmaßnahmen trafen praktisch alle europäischen Staaten (wobei das reiche Norwegen eine der wenigen Ausnahmen bildete), doch am meisten betroffen waren jene Länder, die am stärksten unter der Rezession litten, also nicht nur Griechenland, Spanien, Irland

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