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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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und Island, sondern auch die ärmeren europäischen Staaten wie zum Beispiel Rumänien.
    Die Kritiker des Wohlfahrtsstaats aus der linken Ecke behaupteten nicht ohne Berechtigung, dass die Armen die Hauptopfer der Wirtschaftskrise seien. Waren nicht eher die Banker als die griechischen Arbeiter daran schuld, dass ihr Land immer tiefer in die Schulden rutschte und dass einschneidende Kürzungen vorgenommen werden mussten, um den Schuldenberg abzutragen? Die Berechtigung dieser Vorwürfe ließ sich nicht leugnen, doch war erst einmal eine Krise entstanden, welche die Nationalökonomie (und ganz Europa) bedrohte, welche alternativen Maßnahmen konnten da noch vorgeschlagen werden, um die Situation in den Griff zu bekommen?
    Die Kürzung der exorbitanten Zahlungen an Banker, sobald die unmittelbare Krise vorüber war, gehörte zu den Maßnahmen. Die Banken, die vor dem Kollaps gestanden hatten, wurden nur durch die Intervention des Staates (mithin der Steuerzahler) gerettet. Doch die Mittel, die durch die Kürzung der Boni-Zahlungen an die Banker aufgebracht werden konnten, reichten nicht im Entferntesten aus, um die Einschnitte beim Wohlfahrtsstaat auszugleichen. Es blieb bei der grundlegenden Frage: Wie viel Wohlfahrtsstaat konnte sich Europa leisten, insbesondere in einem Land (oder in Ländern) im akuten Krisenzustand?
    Die italienischen Volkswirtschaftler Giuseppe Eusepi und Luisa Giuriato kamen schon vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise von 2008 zu dem Schluss, dass sich angesichts der über Jahrzehnte aufgetürmten Schulden der Wohlfahrtsstaat in seiner gegenwärtigen Form nicht mehr aufrechterhalten lasse. Doch was wäre, wenn es in den kommenden Jahren einen spektakulären Wirtschaftsaufschwung in Europa geben würde? Die Aussichten sind allerdings nicht optimistisch, denn der Internationale Währungsfonds sagt ein Wachstum von lediglich 1,5 Prozent bis zum Jahr 2015 voraus.
    Was diese Experten für Italien vorhersagten, mag fast für ganz Europa gelten, und wenn ja, was werden die politischen Folgen der schrittweisen Demontage des Wohlfahrtsstaats sein? Die Sozialprogramme beruhten auf einem Gesellschaftsvertrag, und wenn es diesen Vertrag nicht mehr gibt, erscheinen politische Konflikte unausweichlich. Das würde nicht bloß unerfüllte Erwartungen bedeuten, sondern den Lebensstil umkrempeln, an den die Bürger Europas gewöhnt sind. Es würde ein merkliches Absinken des Lebensstandards und der Lebensqualität bedeuten. Wenn Bürgern Dienstleistungen nicht mehr gewährt werden können, die als selbstverständlich galten, könnte das früher oder später zu einem politischen Erdbeben führen, und selbst ein lethargisches Europa könnte Gewalt erleben. Niemand kann vorhersagen, wie sich die Proteste gestalten werden – womöglich eine populistische Reaktion, die sich sowohl nach links als auch nach rechts mit autoritären Auswüchsen entwickeln und das Ende der politischen Parteien und des parlamentarischen Systems herbeiführen könnte, wie es sie in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben hat.

Integration und Erosion
    Um sich das muslimische Kernland in Europa anzusehen, in dem eine muslimische Mehrheit im Verlauf des jetzigen Jahrhunderts zu erwarten ist, müssen wir nur einen Spaziergang durch eine der Städte des Ruhrgebiets machen und dann über die Autobahn entweder direkt westlich Richtung Eindhoven und darüber hinaus oder in nordwestlicher Richtung nach Nijmegen und Utrecht und weiter zum Ärmelkanal fahren. Wir starten in Dortmund oder Duisburg, kommen durch Nordfrankreich und Südbelgien, dann durch die wichtigsten holländischen Städte (Amsterdam, Rotterdam, Utrecht) und die alten Schwerindustrie- und Textilstandorte etwa im Ballungsraum Lille/Roubaix/Tourcoing mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern.
    Zusätzlich könnten wir die Enklaven in England wie Bradford, Burnley und Oldham besuchen (nicht zu vergessen Birmingham) oder Malmö in Schweden sowie einige Städte in Südspanien oder Südfrankreich. Einige dieser Gebiete ähneln immer mehr Teilen von Nordafrika oder des Nahen Ostens. Ich bezweifle, ob Georges Simenon, der vor etwa 100 Jahren in Lüttich geboren wurde, oder Henri Matisse, der in der Nähe von Cambrai auf die Welt kam, die Stätten ihrer Kindheit wiedererkennen würden.
    Solche demografischen Veränderungen haben auch anderswo stattgefunden. In den Vereinigten Staaten verfügt New York nicht mehr über eine »weiße« Mehrheit, genauso wenig Los Angeles, und in ein

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