Europa nach dem Fall
reizt (»Wenn sie die Tür zumachen, kommen wir durch die Fenster rein«, ist ein häufiger Kommentar). Des Weiteren gibt es in der mittelalterlichen arabischen Literatur so etwas wie eine Tradition des Kamasutra, die zweifellos in nächster Zeit wiederentdeckt werden wird. Der Koran (Sure 16, Vers 90) verbietet offene und versteckte Pornografie strikt, denn Allah duldet nichts Schändliches und Abscheuliches. Doch nach in vielen Jahren gesammelten Daten von Google Trends waren sieben von den obersten zehn Ländern, in denen das Wort »Sex« gesucht wurde, muslimisch – darunter der Iran und der Gazastreifen.
Die Versuchungen sind unzählig und können einiges bewirken; die Beatles spielten eine bescheidene Rolle beim Sturz des Sowjetimperiums. In gleicher Weise trägt die arabische Popmusik (Fun-Da-Mental, Natacha Atlas, »Akhenaton« – der Rapper Philipe Fragione – und IAM) dazu bei, den muslimischen Fundamentalismus zu untergraben. Wie viele Fatwas gegen derlei Musik die Mullahs auch veröffentlichen mögen, sie verlieren die Schlacht in den meisten Ländern, genauso wie sie die Schlacht gegen den Fußball verlieren. In den 1980er-Jahren wurden musikalische Unterhaltung und CDs jeglicher Art von der Muslimbruderschaft in Ägypten und anderswo strikt verboten, und noch bis 2003 waren die Darbietungen der gebürtigen Libanesin Nancy Ajram, die womöglich die bekannteste Bauchtänzerin in der arabischen Welt ist, vom ägyptischen Parlament für alle staatlichen Fernsehsender verboten. Doch sie und ihre Kolleginnen können immer noch auf Hunderttausenden, wenn nicht Millionen Video-Clips und auf zahllosen privaten Satellitenfernsehkanälen wie Rotana TV, Nagham oder Melody Hits angesehen werden, die 24 Stunden am Tag senden und ein sehr breites Publikum erreichen.
Im Nahen Osten und unter den muslimischen Gemeinschaften in Europa hat sich trotz aller Bannsprüche und Fatwas eine arabische Popszene etabliert. Die Songtexte einiger Rapper enthalten Zitate aus dem Koran, von Malcolm X und Louis Farrakhan sowie nationalistische Sprüche (»Ich bin ein Soldat in Allahs Armee«). Es gibt einen gehörigen Anteil an Sexismus, gegen die Weißen gerichteten Rassismus und Verherrlichung von Gruppenvergewaltigung, doch in der Hauptsache handelt es sich um Unterhaltung. Mit den Ereignissen von 2011 in der arabischen Welt hat jedoch eine politische Radikalisierung eingesetzt. Thomas Burkhalter hat auf die wachsende Zahl von religiösen und sogar militärischen Symbolen in den Clips von Rappern sowie auf gewaltverherrlichende, sexistische Motive hingewiesen.
Die erste Generation der Rapper in der muslimischen Welt war den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten entsprechend demokratisch und liberal. Die zweite Generation, die eine bemerkenswerte Rolle bei den Ereignissen von 2011 spielte, war radikaler und den Islamisten näher. Um nur ein Beispiel zu nennen: El Général, der bekannteste tunesische Rapper, wandte sich in seinem »Allahu Akbar« gegen eine Welt, in der die Juden regierten und die Muslime Sklaven waren. Araber, so versprach er, würden in ihrer ganzen Pracht wieder auferstehen. Er erklärte all denen den Krieg, die den Islam ablehnten und ihn beleidigten. El Général wurde weithin gelobt und seine Musik in europäischen Medien gespielt, die sich seiner Politik nicht bewusst waren – oder von ihr nichts wissen wollten.
Was die Subkultur von Gangsta Rap und Hip-Hop den muslimischen Fundamentalisten verdächtig macht, sind die afro-karibischen, nicht-muslimischen Einflüsse dieser Musik und vielleicht auch die Tatsache, dass einige der Stars dieser Szene gar nicht muslimischen Ursprungs sind, sondern Italiener (Akhenaton) oder Kopten (Mutamassik) oder sogar jüdisches Blut haben (wie Natacha Atlas, die Muslima ist, aber einen jüdischen Urgroßvater hat). Hinsichtlich des kulturellen Niveaus mag der Beiruter Professor durchaus recht haben, der meinte, dass die schlimmsten Seiten der westlichen Massenkultur kopiert worden sind, die besten aber nicht. Führende Fundamentalisten fanden es leicht, westliche Ideologien vom Liberalismus bis zum Marxismus zu verfemen, doch gegenüber der Popkultur und dem Fußball sind sie machtlos gewesen. Filme mit der Musik von Samira Said und Nancy Ajram wurden verboten, aber das beeinträchtigte die Popularität dieser Art von Musik nicht (Nancy Ajram hat 30 Millionen Alben verkauft). Die Situation in Pakistan war ähnlich; obwohl von etlichen Regierungen verboten, hat der
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