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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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werden.
    Politische Koexistenz wird wohl leichter zu erzielen sein als ein soziales Miteinander. Die meisten politischen Parteien werden um muslimische Stimmen werben, und Ortsbezirke könnten von ihnen übernommen werden. Es gibt gewisse gemeinsame Interessen, daher könnte es zu Koalitionen kommen. In einigen Orten könnte die Wahlentscheidung der Muslime schon jetzt den Ausschlag geben (wie sich etwa 2006 in Holland am Sieg der PvdA [Partij van de Arbeid] zeigte, wo die Hälfte der nominierten und gewählten Ratsmitglieder muslimischer Herkunft waren), und sie wird in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. Wäre Ken Livingstone, der ehemalige Bürgermeister von London, ohne die Stimmen der Muslime gewählt worden? Muslime stellen ein Viertel der Abgeordneten im Parlament der Provinz Brüssel. Es besteht die Gefahr einer Polarisierung; Stadtratswahlen im East End von London zeigten ein Anwachsen des xenophoben Stimmenanteils (der British National Party) auf der einen und der trotzkistisch-islamistischen Gruppen auf der anderen Seite. Islamisten sollen angeblich zwischen 2010 und 2011 den Wahlbezirk Tower Hamlets im East End übernommen haben.
    Die Gründung ethnischer Parteien wird wohl keinen Erfolg versprechen, wie Versuche in Spanien bereits gezeigt haben. Andererseits wird, wie bereits besprochen, das Anwachsen muslimischer Gemeinschaften, die sich nicht im erforderlichen Maß integrieren haben können, zwangsläufig zu einer politischen Gegenreaktion führen, wie sich zeigt am Erstarken einwanderungsfeindlicher Parteien und der Anpassung praktisch aller größeren politischen Parteien an vorherrschende einwanderungsfeindliche Stimmungen in der Bevölkerung.
    Eine antimuslimische Gegenreaktion hat auf regionaler Ebene bereits begonnen. Antwerpen in Belgien mag als Beispiel dienen, aber auch eine ganze Reihe englischer Bezirke wie etwa Barking und Dagenham (weiße Arbeiterviertel) in London und Teile von Birmingham. Dazu gehören auch Wahlerfolge des Front National in Frankreich. Ähnliches hat in Norditalien stattgefunden und praktisch in allen anderen europäischen Ländern, darunter auch diejenigen, die traditionellerweise am liberalsten waren, etwa die skandinavischen Staaten und die Niederlande.
    In politischen Science-Fiction-Romanen tauchen etwa Geschichten auf, in denen Muslime (und Juden) binnen 24 Stunden aus Belgien vertrieben werden. Im Gefolge der Unruhen im November 2005 in Frankreich erschien ein ähnlich gelagerter Politthriller, Le songe du guerrier von Clément Weill-Raynal, über einen Gegenschlag von rechter Seite. Eine Gegenreaktion, und zwar nicht nur in Frankreich, erscheint wahrscheinlich, aber nicht im Stil dieser extrem gehaltenen Fiktionen. Dass so extreme Kräfte an die Macht kommen, ist etwa so wahrscheinlich wie die russischen Phantasien darüber, dass Frankreich ein radikalislamischer Staat wird mit einer kleinen christlichen Minderheit, die im Untergrund Widerstand leistet, um schließlich von den russischen Streitkräften gerettet zu werden (Elena Chudinowa: Mechet Parizhskoi Bogomateri [Die Moschee von Notre-Dame de Paris], Moskau 2005).
    Politische Spekulationen beruhen häufig auf der Annahme, dass es da einen monolithischen muslimischen Block gibt, was, wie ich bereits betont habe, nicht den Tatsachen entspricht. Bei all der religiös-politischen Radikalisierung der letzten Jahre gibt es dennoch viele zentrifugale Trends, internen Wettstreit und Rivalität in der Gemeinschaft. In vieler Hinsicht handelt es sich um ein Rennen gegen die Zeit. Es geht zum Teil um die Frage, wie lange Fanatismus andauert, da solche Wellen, inspiriert durch echte oder säkulare Religionen, sich nicht ewig halten. Der Fanatismus der muslimischen Gemeinschaften in Europa sollte nicht überbewertet werden; es gibt Sympathien für die sogenannten Militanten, einhergehend mit Frustration und Aggression und dem Verlangen, die Unzufriedenheit auszuagieren, doch die Mehrheit will keinen Märtyrertod sterben, sondern lebt lieber ruhig und einigermaßen bequem.
    Wie lassen sich die friedfertigen Strömungen in den europäischen Muslim-Gemeinschaften fördern? Es geht vor allem darum, das Bildungsniveau dieser Gemeinschaften zu erhöhen, sie zu eigenständigem Denken anzuleiten und ihre Abhängigkeit von der Belehrung durch fundamentalistische Imame zu verringern. Eine Gegenreaktion auf den Fundamentalismus in muslimischen Gemeinschaften sollte nicht ausgeschlossen werden, da so etwas in den meisten Religionen

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