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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Weiteren kehrte ein beträchtlicher Teil der türkischen Studenten mit einem deutschen Universitätsabschluss in die Türkei zurück, weil dort ihre Karriereaussichten besser waren. Türkische Bauarbeiter, um ein weiteres Beispiel anzuführen, genossen im ganzen Nahen Osten und in Zentralasien höchstes Ansehen, doch wenige, wenn überhaupt welche, waren nach Europa ausgewandert. Deutschland hatte Einwanderer aus rückständigen Dörfern in Ostanatolien aufgenommen. Und mutatis mutandis traf dies für Pakistaner in England oder Nordafrikaner in Frankreich, Italien und Spanien zu. Es waren nicht die Qualifiziertesten gekommen, sondern die Ungebildeten und Unausgebildeten.
    Beruflicher Erfolg war wichtig, doch es wäre ein Fehler, ihn als Allheilmittel gegen eine Radikalisierung und Ausbreitung eines gewalttätigen Islamismus zu betrachten. Die meisten derjenigen, die sich den Dschihadisten in Europa angeschlossen hatten, kamen nicht aus der ärmsten und arbeitslosen Schicht, sondern aus der Mittelschicht. Die Türkei hat während der letzten zehn Jahre beträchtliche wirtschaftliche Fortschritte gemacht und ist als der »Tiger« der OECD in Erscheinung getreten. Doch gleichzeitig hat sich der Einfluss des Islamismus und einer antiwestlichen Haltung in der Türkei markant erhöht.
    Warum waren diese Probleme nicht früher erkannt worden? Ideologische Scheuklappen müssen für die Erklärung herhalten. Viele Migrationsexperten hatten behauptet, dass die fehlende oder fehlgeschlagene Integration hauptsächlich oder gar vollständig den Europäern zuzuschreiben sei, als ob Integration eine Einbahnstraße wäre. Jede Einwanderungswelle, selbst in typischen Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten, war auf Ablehnung gestoßen, welche die Einwanderer zu überwinden hatten. Die Problematik bei den nach Europa eingewanderten Muslimen bestand darin, dass viele von ihnen nicht Teil ihrer Gastgesellschaft werden wollten, sondern das Leben in einem Ghetto bevorzugten und von ihren spirituellen Anführern und auch von führenden muslimischen Politikern dazu ermutigt wurden. Zur gleichen Zeit behaupteten sie, sie würden diskriminiert, und die jungen unter ihnen schienen ihren Opferstatus zu genießen. Diejenigen, die es geschafft hatten und denen der gesellschaftliche Aufstieg gelungen war, zogen größtenteils aus dem Ghetto aus, im Gegensatz beispielsweise zu Indien, wo die muslimische Mittelschicht weiterhin in den Bezirken wohnte, in denen ihre Glaubensgenossen lebten.
    Unter denen, die eine gelassene Ansicht der Ergebnisse und Aussichten der Integration an den Tag legten, waren zwei französische Autoren, Justin Vaïsse und Jocelyne Cesari, sowie Jytte Klausen, eine dänisch-amerikanische Professorin. Vaïsse und Cesari schlossen sich früheren Erklärungen von Oliver Roy an und behaupteten, dass gewisse Schwierigkeiten im Verlauf der Integration oder sogar Konflikte wie die Unruhen bei Paris im Wesentlichen einen sozialen und keinen religiös-politischen Charakter trügen, mit anderen Worten, »es war Marx, nicht Mohammed, du Dummkopf«. Diese Behauptung war nicht ganz falsch. Hätten die Einwanderer innerhalb von wenigen Jahren einen Lebensstandard ähnlich dem in Kuwait erreicht, hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Unruhen gegeben. Laut Professorin Klausen, die etwa 500 muslimische Berufstätige interviewt hatte, Männer und Frauen in unterschiedlichen Ländern Europas, alle aus der Mittel- oder Oberschicht – Geschäftsleute, Professoren, Anwälte und Ärzte –, waren alle zufrieden mit ihren Lebensumständen. Sie identifizierten sich mit ihrer neuen Heimat und waren darauf aus, am politischen und kulturellen Leben teilzunehmen und dazu beizutragen.
    Die größte Optimistin war wohl Dalia Mogahed, eine Amerikanerin ägyptischer Herkunft, die das Islam-Projekt am Gallup-Institut leitete und Präsident Obamas Ratgeberin in muslimischen Angelegenheiten wurde. Laut ihren Ergebnissen haben Muslime in Frankreich, Großbritannien und Deutschland keine Sympathie für Terroristen, wollen sich nicht vom Rest der Gesellschaft abkapseln und sind ihrem neuen Land mehr ergeben als der Rest der Bevölkerung. Sie haben auch größeres Vertrauen in die Polizei, die Regierung, das Rechtssystem, die Transparenz von Wahlen und andere nationale Einrichtungen.
    Solche Ergebnisse wären, sofern sie korrekt sind, ausgezeichnete Nachrichten, denn das würde bedeuten, dass die Integration über alle Erwartungen erfolgreich war.

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