Europa nach dem Fall
Organisationen an. Die Moskauer Behörden tolerierten den Zustrom ausländischer Gelder und Ideen, teils weil sie nicht die Macht hatten, ihn zu unterbinden, und teils weil sie sich dessen nicht bewusst und mit anderen Problemen beschäftigt waren. Doch die Wiedererweckung des Islam (und oft des radikalen politischen Islam) fand zugleich mit dem Aufstieg nationalistischer Trends unter der russischen Bevölkerung statt, die »Russland den Russen« skandierte, und natürlich auch mit dem Erstarken der orthodoxen Kirche. Die russische Führung versuchte angestrengt, aber nicht sehr erfolgreich, solche Konflikte zu verhindern, da inzwischen das Ansehen Russlands in der muslimischen Welt bereits auf einem Tiefpunkt war, was auf die russische Invasion Afghanistans und den ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 zurückzuführen war. Russland trat sogar der Organisation der Islamischen Konferenz als Beobachter bei, um sein Interesse an muslimischen Angelegenheiten zu zeigen.
Obwohl antirussische Haltungen im Nordkaukasus stark vertreten waren, war die Lage in der zentralen Wolgaregion, die Tatarstan und Baschkortostan einschloss, viel weniger angespannt. Als Russland seine Truppen aus Afghanistan abzog, hörte es auf, ein vorrangiges Ziel muslimischer Feindseligkeiten zu sein, doch Terroranschläge durch kaukasische Militante dauerten an. Insgesamt bekundeten russische Muslime nur zurückhaltendes Interesse an den Angelegenheiten ihrer Glaubensgenossen in anderen Ländern. Die Zahl der Teilnehmer am jährlichen großen Hadsch, dem Pilgerzug nach Mekka in Saudi-Arabien, war gering, obwohl die Reise bezuschusst wurde, und der Aufruf von 2009, Geld für die Gaza-Kampagne zu spenden, erbrachte lediglich 100 000 Rubel.
An der Heimatfront zeigten die Muslime stärkere Aktivitäten. Die Gefahr einer Abspaltung bestand zwar nicht, da die muslimischen Gemeinschaften sich nicht in einer zusammenhängenden Region befinden, sondern über ein weites Gebiet verstreut sind. Im Gegensatz zu den sehr armen Regionen Dagestan und Tschetschenien sind die an der mittleren Wolga konzentrierten Muslime sehr industrialisiert, hauptsächlich wegen der Ölindustrie und ihrer zahlreichen Zulieferer. Dennoch haben sie zunehmend politische und wirtschaftliche Forderungen gestellt und zum Beispiel die Idee ins Spiel gebracht, dass der Vizepräsident Russlands stets ein Muslim sein sollte. Der radikale politische Islam hat in diesen Gegenden nicht viele Anhänger gefunden. Die Bevölkerung ist gemischt, viele Menschen haben über die Religionsgrenzen hinweg geheiratet, und was die Rückkehr zum religiösen Gesetz des Islam, die Scharia, betrifft, kam hierzu häufig der Kommentar: »Wir wollen nicht ins Mittelalter zurück.« Der Einfluss des modernen Islam ist stark gewesen und der Fundamentalismus wurde verachtet. Die Opposition zu Moskau beruht sehr viel mehr auf nationalistischen als auf religiösen Grundlagen. Im Dezember 2010 entdeckten russische Sicherheitskräfte jedoch islamistische Terrorzellen in der Wolgaregion, und es gab Todesfälle in den darauf folgenden Zusammenstößen. Insgesamt gibt es eine sehr lange Tradition der Toleranz in der Region und interethnische Heiraten sind häufig. Doch einige muslimische Länder haben Geld in den Bau von Moscheen und ähnlichen Einrichtungen gesteckt, die eine radikale, aggressive Version des Islam predigen und versuchen, Militanz zu propagieren.
Die andere bedeutende Konzentration von russischen Muslimen ist im Großraum Moskau. Ganze Viertel der russischen Hauptstadt, speziell Vororte wie Butowo, sind von muslimischen Neuankömmlingen übernommen worden. Es gibt noch nicht viele Moscheen, daher sind so wie in anderen europäischen Metropolen Zehntausende Gläubige beim Gebet auf den Straßen zu sehen. Das ist eigentlich aber nicht das Resultat bewusster Diskriminierung gewesen. Es gab unter der sowjetischen Herrschaft auch nicht viele Kirchen oder Synagogen. Wie in anderen europäischen Ländern hat es auch unter den Russen Opposition gegen die wachsende muslimische Präsenz gegeben. Doch im Allgemeinen haben die Behörden sich behilflich gezeigt. Muslimische Klubs, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Supermärkte (wie etwa Appelsina) sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es gibt muslimische Buchhandlungen, welche die Werke von Ideologen des Islamismus wie Sayyid Qutb und Maududi verkaufen, die ins Russische übersetzt wurden. Die Einwanderung muslimischer Arbeitskräfte aus den
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