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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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vorhanden war. Das ließe sich als ein Spiegel des Schicksals von größeren Gemeinschaften sehen.
    Diejenigen, die versuchten, derartige Theorien über junge und alte Völker anzuwenden, hatten ein weites Feld vor sich. Schon Ernst von Lasaulx, ein deutscher Historiker und Philosoph aus dem 19. Jahrhundert, Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck, ein ideologischer Vorläufer der Nazis, der den Begriff Drittes Reich prägte, beschäftigten sich damit. Moeller van den Bruck glaubte, dass die Zukunft den »jungen Nationen« wie Deutschland und Russland gehörte; andere fügten noch Italien und die Vereinigten Staaten hinzu. Doch Deutschland, Russland und Italien erging es nicht so gut. In unserer Zeit sind China und Indien zu jungen Nationen umgedeutet worden, obwohl sie zu den ältesten gehören.
    Welche Rolle spielt der Zufall? Diese Frage hat bereits Gibbon erwogen. Was wäre gewesen, wenn die Sarazenen 732 die Schlachten von Tours und Poitiers gewonnen hätten, und was, wenn die Türken 1529 und 1683 vor den Toren Wiens gesiegt hätten? Was, wenn die europäischen Revolutionen von 1848 Erfolg gehabt hätten, und was, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre? Solche Folgen waren absolut denkbar und hätten, wären sie eingetreten, der europäischen Geschichte einen anderen Verlauf gegeben. Kontrafaktische Geschichte ist kein bloßes Spiel. Sie zeigt, dass die Zeit und eben auch der Zufall eine entscheidende Rolle spielen.
    Zunehmender Luxus ist oft als Ursache des Niedergangs erwähnt worden. Die Menschen wurden untätig und verloren ihren Antrieb und Unternehmungsgeist, weshalb Länder nicht mehr genügend junge Leute fanden, die für sie kämpften, und daher Söldner verpflichten mussten. Das ist als Erklärung auch für Holland im 17. Jahrhundert herangezogen worden, trotz der Tatsache, dass die Holländer im Vergleich mit der italienischen Aristokratie jener Zeit relativ bescheiden lebten.
    Was war die Rolle neuer Religionen, politischer Religionen oder der Ideologie bei Aufstieg und Fall von Nationen? Das war zweifellos ein bedeutender Faktor – warum verloren intellektuelle Eliten Patriotismus, Stolz und Selbstvertrauen und missachteten Vergangenheit und Gegenwart ihres Landes und somit das einstige Gefühl einer historischen Mission? Wie ließ sich der Verlust an Selbstvertrauen selbst bei herrschenden Eliten erklären? Manchmal, jedoch nicht immer, bewirkte dies ein verlorener Krieg, und manchmal folgte auf Epochen der Dekadenz ohne ersichtlichen Grund eine spirituelle Wiederbelebung, die zu einer politischen Wiedergeburt führte. Vielleicht war das, zumindest in einigen Fällen, ein Generationenphänomen, wenn nämlich die jüngere Generation den Müßiggang von Dekadenz und Verfall satt hatte. Das nennen wir das D’Annunzio-Phänomen nach dem Poeten, der sich von einem wollüstigen Lebemann zu einem Fliegerhelden und aggressiven Patrioten wandelte (allerdings seit jeher mit Sympathien für ultranationalistische Ansichten).
    Viele Fragen, keine gesicherten Antworten. Eine Gewissheit scheint die Bedeutung der Gebietsgröße für die Erlangung und Aufrechterhaltung eines Supermachtstatus darzustellen, und da kommt Europa ins Spiel. Welche Chancen hat Europa in der Vergangenheit verpasst? Was wäre, wenn sich Europa im Lauf der Jahrhunderte vereint hätte? Es gab auf jeden Fall einige, die das wollten und davon träumten. Den poetischsten Ausdruck dieser Sehnsucht lieferte Novalis, der große deutsche Dichter, in der Einleitung zu Die Christenheit oder Europa : »Es waren schöne glänzende Zeiten«, schrieb er, »wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte.« Die Beziehungen unter den Menschen waren von kindlichem Zutrauen geprägt, und sogar die wildesten Instinkte und Emotionen waren gebändigt. Jedermann erledigte ruhig, mit Hoffnung und ohne Furcht seine Angelegenheiten, jedermann fühlte sich beschützt, und so weiter.
    Nicht alle stimmten einer solch idyllischen Beschreibung des Mittelalters zu. Doch sicherlich empfanden nicht nur die Romantiker eine solche Sehnsucht. Rousseau und vor ihm der französische Abbé de Saint Pierre hatten einen Plan zur Einigung Europas. Kants berühmte Abhandlung über den

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