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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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ewigen Frieden beruhte auf der Grundlage einer Föderation säkularer und freier europäischer Staaten. Diese Männer glaubten alle an eine europäische Identität – an den Einfluss Griechenlands, Roms, der Christenheit, der Renaissance, des Humanismus und der Aufklärung. In mehr oder weniger großem Ausmaß hatten sie alle Europa zu dem gemacht, was es geworden ist, aber das führte nicht zu einem politischen Europa.
    Zwei Männer unternahmen den Versuch, Europa mit Gewalt zu vereinen – Napoleon und Hitler (Hitler wurde ein nahezu leidenschaftlicher Europäer, jedoch erst, als er 1943 erkannte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war). Doch selbst wenn sie ihre Kriege gewonnen hätten, hätte das nicht funktioniert. Ihre Aggressionen stärkten im Gegenteil den Nationalismus in Europa.
    Warum schaffte Europa die Einigung nicht und ging mit gutem Beispiel voran? Die zahlreichen Länder hatten unterschiedliche Traditionen, sprachen verschiedene Sprachen (Latein blieb die Sprache nur weniger), und es gab unterschiedliche Religionen, die zu der Zeit weitaus wichtiger waren als heute. Die Entfernungen zwischen den Ländern waren groß und Reisen war beschwerlich und mühsam. Die Europäer trafen sich nicht oft und wussten wenig voneinander. Das galt sogar schon innerhalb der meisten Länder (beispielsweise Frankreich), und es galt umso mehr für ganz Europa. Deutschland und Italien erlangten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nationale Einheit. Und so entstand der Nationalstaat – eine »imaginierte Gemeinschaft«, wie einige meinten, aber eben eine mit weitaus größerer Anziehungskraft als die europäische Idee.
    Es gab Debatten darüber, ob sich ein Gefühl nationaler Identität erst durch den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich entwickelt hatte, ob das Phänomen auf antike Zeiten zurückging oder ob es erst in jüngerer Zeit entstand, im 18. und 19. Jahrhundert. Das sind interessante Fragen, insbesondere hinsichtlich der Macht des Nationalismus, doch wie die Antwort auch lauten mag, ihre Bedeutung für die heutige Situation ist begrenzt. Es läuft auf die zentrale Frage hinaus, ob der Nationalismus in Europa genügend »absterben« wird, um ein vereintes Europa zu ermöglichen. Selbst wenn sich diese Frage bejahen lässt, bleibt abzuwarten, ob ein vereintes Europa eine grundlegend größere Rolle in internationalen Angelegenheiten spielen kann als derzeit oder ob die gegenwärtigen Schwächen der europäischen Staaten, Lustlosigkeit und Willenslähmung, in einem vereinten Europa wieder auftauchen werden.
    Historisch gesehen ist die wohl zweckdienlichste Frage die: Wann hat Europa sein Selbstvertrauen verloren? Dieser Verlust bahnte sich auf der Höhe seiner Macht an. Trübe Visionen unter Dichtern und Philosophen sowie eine Endzeitstimmung waren jedoch nicht immer ansteckend, zum Teil weil es früher schon zu oft falschen Alarm gegeben hatte. Jean-Paul Sartre hatte in den 1960er-Jahren die Alarmglocke geschlagen – Europa liege in den letzten elenden Todeszuckungen. Der von Frantz Fanon, dem »Propheten der reinigenden Gewalt«, inspirierte Sartre hätte nicht falscher liegen können, denn die größte Gefahr für Europa war zu jener Zeit die wirtschaftliche Stagflation, die es meisterte.
    Wenn wir weiter zurückschauen, gab es schon leichte Panik vor dem Ersten Weltkrieg – das berühmte Fin de Siècle. In Frankreich hatte es früher begonnen, aber auch früher aufgehört. Alle möglichen schrecklichen Unglücke ereigneten sich; Dichter und Maler waren in tiefer Verzweiflung. Benedetto Croce, ein scharfer Beobachter, stellte fest, dass das Fin de Siècle mehr als nur eine literarische oder künstlerische Mode sei. Denn mit dem Niedergang der Religion hatte sich ein grundlegender Wandel eingestellt. Der säkulare Humanismus konnte das nur teilweise aufwiegen.
    Dennoch war nicht klar, wie tief die Verzweiflung ging. Denn der Optimismus für eine bessere Zukunft war noch ungebrochen.
    Swinburne, der Großvater der englischen Dekadenten, begrüßte das neue Jahrhundert in einem Gedicht mit dem Titel 1901 :
    An age too great for thought of ours to scan
    A wave upon the sleepless sea of time
    (wörtliche Übersetzung: »Ein Zeitalter, zu groß, um es in unseren Gedanken zu ermessen / Eine Welle im schlaflosen Meer der Zeit«)
    Die Stimmung war eher nachdenklich als verzweifelnd. Europa beherrschte die Welt, doch lohnte sich das? Kipling, der Poeta laureatus, schrieb 1899:
    Take up

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