Europa nach dem Fall
Reproduktionsrate von 2,1 Geburten pro Familie noch nicht erreicht. Die jüngsten Entwicklungen bedeuten lediglich, dass die Bevölkerung Russlands ergraut und dass der absolute Schrumpfungsvorgang sich leicht verlangsamt hat. Darüber hinaus ist der Anstieg der Geburtenrate wohl hauptsächlich den nicht-russischen Minderheiten zu verdanken.
Es sollte allen schon deutlich geworden sein, dass sich das Gesicht und das Wesen Europas verändern. Es hatte viele Millionen Gastarbeiter gegeben, die für das Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre eine entscheidende Rolle spielten. Doch das waren hauptsächlich Europäer gewesen, Italiener, Spanier, Portugiesen und Jugoslawen, die schließlich in ihre Heimatländer zurückkehrten. Sie wurden durch Millionen neuer Einwanderer aus Asien, dem Nahen Osten und Afrika ersetzt; einige von ihnen waren als Asylsuchende gekommen, doch die meisten suchten nur ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Im Gegensatz zu den früheren Gastarbeitern hatten sie keine Absicht, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Viele von ihnen hatten aber auch kein Verlangen, sich so wie die früheren Einwanderer in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Das schuf zunehmende soziale, politische und kulturelle Probleme, die im Großen und Ganzen als handhabbar erachtet wurden, bis um die Jahrhundertwende plötzlich erkannt wurde, dass diese Neubürger etwa ein Viertel (manchmal ein Drittel) der Bevölkerung in vielen europäischen Städten ausmachten und dass sie in der jüngsten Generation die Mehrheit bildeten. In Brüssel stammten beispielsweise mehr als 55 Prozent der Neugeborenen aus Migrantenfamilien.
Im Ruhrgebiet wird mehr als die Hälfte der unter Dreißigjährigen binnen ein oder zwei Jahrzehnten nicht-deutscher Abstammung sein. In absehbarer Zukunft werden sie wohl in der Generation derjenigen, die heute in den Kindergarten gehen, die Mehrheit ausmachen. So ist fast über Nacht aus einem anscheinend kleineren Problem auf lokaler Ebene ein größerer politischer Streitpunkt geworden, denn unter den einheimischen Leuten wächst der Widerstand, da sie nicht Fremde in der eigenen Heimat werden wollen. Vielleicht ist ihre Reaktion falsch, doch sie sind sich dieses Trends erst in jüngster Zeit bewusst geworden und niemand hat sie befragt oder konsultiert.
Kurzum, es hätte spätestens um die Jahrhundertwende klar sein sollen, dass Europa vom Weg zum Status einer Supermacht abgekommen war und vor einer existenziellen Krise stand, genauer gesagt, eher vor einer Reihe von größeren Krisen, von denen das demografische Problem eines der ernstesten war. Die Erkenntnis kam sehr plötzlich, doch sie stiftete gleich wieder Verwirrung, weil die Krise unbeherrschbar zu sein schien – die Problematik war zu spät entdeckt worden.
Die Aussichten waren nicht gerade rosig, was keinesfalls die Illusionen einiger ausländischer Beobachter erklärt, die weiterhin behaupteten, dass das 21. Jahrhundert Europa gehören würde. Sie sagten, dass Europa eine Vision von Gerechtigkeit und Harmonie hatte, die sehr im Gegensatz zum amerikanischen Traum stand, der nicht mehr existierte. Die europäische Vision legte den Schwerpunkt auf die Gemeinschaft im Gegensatz zur kleinlichen Betonung des Individualismus in Amerika. Sie zog Lebensqualität der Anhäufung von Geld vor. Amerikaner müssten härter arbeiten als die Europäer, hätten weniger Urlaub, lebten nicht so lang wie die Europäer und genossen ganz allgemein gesagt das Leben viel weniger. Goethes Ausspruch, »Amerika, du hast es besser«, galt nicht mehr. Europäer waren selbstlos, also hieß es: Europa hat es besser. Einer jüngsten Umfrage zufolge erklärten 95 Prozent der Europäer, dass Altruismus, der Wunsch, anderen zu helfen, ihr höchster Wert sei. Oder, wie es ein anderer Beobachter formulierte, Machtpolitik sei ein Ding der Vergangenheit. Europas stärkste Waffen waren Gerechtigkeit und Gesetz. Diese Idee würde sich von Europa aus über die ganze Welt verbreiten und im Weltgeschehen den Ton angeben.
Wir befassen uns hier nicht mit Vergleichen zwischen Amerika und Europa, den Vorzügen und Nachteilen ihrer jeweiligen Lebensweisen, sondern mit dem Zustand Europas, über den die amerikanischen Freunde, wie sich bald herausstellen sollte, so bedauerlich schlecht informiert waren. Wie lässt sich das Ausmaß der Konfusion erklären? Die Motivation und die zugrundeliegenden Annahmen unterschieden sich. Sie hatten viel mehr mit der Lage in Amerika als
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