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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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mit den europäischen Realitäten zu tun. Tony Judt hat in seiner schwergewichtigen Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart geschrieben: »… Europas Auftritt gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als beispielhafte Verkörperung internationaler Tugenden: eine Wertegemeinschaft und ein System zwischenstaatlicher Beziehungen, das bei Europäern und Nichteuropäern gleichermaßen als leuchtendes Vorbild galt. Zum Teil lag das an der wachsenden Enttäuschung über die amerikanische Alternative.« Einige Amerikaner, die mit dem Zustand ihres Landes unzufrieden waren, übertrugen ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Europa, das ihren Idealen näher zu sein schien. Tony Judt erlebte es nicht mehr, wie ganz anders sich die Dinge in Europa entwickeln würden.
    Die Lobeshymnen auf Europa und die rosigen Prophezeiungen wurden geschrieben von Kritikern der Außen- und Innenpolitik der Vereinigten Staaten, speziell unter der Präsidentschaft von George W. Bush. Ob die Kritik an den Vereinigten Staaten nun zutreffend war oder nicht, ist in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich. Ausschlaggebend ist die psychologische Motivation. Die betreffenden Autoren sahen in Europa alles (oder zumindest vieles), was sie in Amerika vermissten, und sie gelangten zu der Auffassung, dass das europäische Modell nicht nur vorzuziehen wäre, sondern sich auch durchsetzen würde. Mark Leonard schrieb in einem langen Essay mit dem Titel Why Europe Will Run the 21st Century (Warum Europa das 21. Jahrhundert beherrschen wird): »Im Verlauf dieses Prozesses werden wir ein ›neues europäisches Jahrhundert‹ heraufdämmern sehen. Nicht weil Europa die Welt wie ein Imperium beherrschen wird, sondern weil die europäische Art, Dinge zu regeln, die der ganzen Welt geworden sein wird.« Etwas vorsichtiger drückte sich Tony Judt aus: »Das 21. Jahrhundert könnte durchaus Europa gehören.« Ihre tief sitzenden Überzeugungen vom Zustand Amerikas machten all diese Autoren offenbar blind für den Ernst der europäischen Krise. Bis 2006 hatten sich einige von ihrem früheren Optimismus distanziert, andere jedoch nicht. Es gab immer noch eine sonderbare Fixierung auf den Wettstreit zwischen Europa und Amerika, ohne den Blick dafür, dass sich andere Machtzentren gebildet hatten, die für größere Herausforderungen und auch für einen äußerst scharfen Wettbewerb sorgen würden. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis sich eine realistischere Einschätzung durchsetzte.
    Doch es wäre unfair, sich auf das unvollständige Wissen oder Verständnis einiger amerikanischer Beobachter zu konzentrieren. Die Illusionen bestanden auch bei vielen führenden Politikern in Europa. Als das Jahr 2000 feierlich, wie es sich für den Beginn eines neuen Jahrtausends geziemt, eingeläutet wurde, schien alles seinen geregelten Gang zu gehen. Es war das letzte Jahr von Clintons Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten. In Russland trat Putin sein Amt an und Milo š evi ć wurde gestürzt. Es gab einige Katastrophen wie den tragischen Verlust des russischen U-Boots Kursk und die Explosion der Concorde auf dem Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Real Madrid gewann die Champions League und zum ersten Mal in der Geschichte gewann Spanien den Davis Cup im Tennis.
    Ende März jenes Jahres trafen sich die europäischen Staatsoberhäupter in Lissabon, um ihre Strategie für die nächsten zehn Jahre zu erörtern. Unter den wichtigsten Tagesordnungspunkten waren Vollbeschäftigung und die Einrichtung einer europäischen Raumfahrtbehörde für Forschung und Innovation. Es bestand allgemeine Übereinstimmung, dass Europa die wettbewerbsfähigste und dynamischste Wirtschaft auf der Welt werden und imstande sein würde, für permanentes Wachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialen Zusammenhalt zu sorgen. Das ließe sich, wie im Schlusskommuniqué festgestellt wurde, durch einen Übergang zu einer europäischen Wirtschaft und Gesellschaft erreichen, deren Grundlage Wissenschaft, Modernisierung des europäischen Modells, Investitionen ins Sozialleben und Bekämpfung sozialer Ausgrenzung bilden würden. Alle Schulen sollten bis Ende 2001 Zugang zu Internet und Multimedia haben, Arbeiter sollten weniger besteuert werden, im Balkan sollte Frieden herrschen und für Tschetschenien sollte eine Lösung gefunden werden. Insgesamt wurden 28 Hauptziele sowie 120 Nebenziele festgelegt.
    Das Jahr 2000 war für Europa ein ausnehmend gutes. Das Wirtschaftswachstum hatte 3

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