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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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europäischen Mächten entwickelten sich Spannungen, doch weil es seit etlichen Jahrzehnten keinen Krieg mehr gegeben hatte, dachte auch niemand daran. Europa strotzte vor Zuversicht. Die Weltbevölkerung betrug im Jahr 1900 1,7 Milliarden; jeder vierte Bürger lebte in Europa. Die Bevölkerung Europas war sechsmal so groß wie die der Vereinigten Staaten, die damals 76 Millionen betrug. Dann brach der Erste Weltkrieg aus mit seinen schrecklichen Verwüstungen und seinen vielen Millionen Opfern, gefolgt von Revolutionen, Bürgerkrieg, Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Europa war um einiges schwächer geworden, war aber nach wie vor der Mittelpunkt der Welt.
    Die ganze Zeit über tickte schon die Bevölkerungsuhr, was allerdings wenige beachteten, weil die Bevölkerung Europas aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung in absoluten Zahlen noch immer wuchs. Doch sie wuchs viel langsamer als in anderen Teilen der Welt. Europa hatte im Jahr 1900 422 Millionen Einwohner, 1950 waren es 548 Millionen und 2008 733 Millionen. Es gab sogar mehrfach falschen Alarm wegen der Gefahr einer Überbevölkerung. Als ich in Deutschland vor und nach der Machtübernahme der Nazis zur Schule ging, sprachen die Lehrer ausführlich vom Bedarf an mehr Lebensraum. Der berühmte Bestseller jener Zeit war Hans Grimms Volk ohne Raum . Der Autor hatte viele Jahre in Südafrika gelebt, und er dachte wie viele andere, dass die Landwirtschaft die wichtigste Säule der Nationalökonomie und Volksgesundheit sei. Das war schon damals (vor der großen technologischen Revolution in der Landwirtschaft) falsch, und sogar Hitler hatte eingesehen, dass zum Aufbau und Unterhalt einer großen modernen Armee die Schwerindustrie viel wichtiger war als der Anbau von Kartoffeln und Tomaten. Doch selbst nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema der europäischen Überbevölkerung eine Zeit lang in aller Munde, weil 1972 der Club of Rome seinen einflussreichen Report über die Grenzen des Wachstums veröffentlichte, der genau dieses Evangelium predigte und eine Auflage von 30 Millionen erreichte.
    Was war der Grund für die ständige Abnahme der Geburtenrate in Europa? Diese Frage lässt sich gar nicht leicht beantworten, weil der Trend auf dem ganzen Kontinent um sich griff, im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten, in katholischen, protestantischen und orthodoxen Ländern, in sehr reichen und relativ armen – also in Staaten sehr unterschiedlichen Charakters. Deshalb überrascht es nicht, dass es unter den Demografen keine Einmütigkeit gibt. Die Antibabypille spielte wohl eine Rolle, aber keine entscheidende; wichtiger war die Tatsache, dass immer mehr Frauen es akzeptierten (oder sich verpflichtet fühlten, es zu akzeptieren), einer Vollbeschäftigung nachzugehen, und daher nicht wollten, dass ihr beruflicher Werdegang durch Schwangerschaften und die Versorgung der Babys beeinträchtigt wurde. Die Hälfte aller weiblichen Wissenschaftler in Deutschland ist kinderlos, um nur ein Beispiel zu nennen. Am wichtigsten war aller Wahrscheinlichkeit nach, dass die Institution der Familie gehörig an Ansehen verloren hatte. Familien galten als altmodisch. Viele Menschen wollten sich ihren Lebensgenuss nicht durch alle möglichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten trüben lassen. So kam es zu dem offenkundigen Paradox, dass die Europäer in einer Zeit, da sie sich mehr Kinder als je zuvor leisten konnten, immer weniger Nachwuchs zeugten.
    Wie sahen angesichts dieses Niedergangs die Vorhersagen für die Zukunft aus? Nach Schätzungen der UNO und der EU (»Weltbevölkerungsaussichten« und »Eurostat«) wird die Bevölkerung Frankreichs bis 2050 von derzeit 60 Millionen nur leicht auf 55 Millionen und bis zum Ende des Jahrhunderts auf 43 Millionen sinken. Ein ähnlicher Trend wird für das Vereinigte Königreich vorhergesagt. Nach den offiziellen Vorausberechnungen des Nationalen Statistischen Amtes von 1998 sollte die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs 2051 mit 65 Millionen seinen Höhepunkt erreichen und ab da leicht abnehmen. Nach den offiziellen Berechnungen von 2008 würde sie 2051 77 Millionen und 2083 85 Millionen erreichen. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Nur mit dem Einfluss von Einwanderern aus Indien, Pakistan, Bangladesch und von den Westindischen Inseln. Den gleichen Berechnungen zufolge wären die weißen Briten in weniger als 50 Jahren in der Minderheit, wenn sich die gegenwärtige Einwanderungsrate fortsetzte.
    Die

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