Europa nach dem Fall
Prozent erreicht, weitaus mehr als in den Jahren davor und danach. Doch es war eine trügerische Morgendämmerung. Als sich fünf Jahre später die Staatslenker wieder zu einem Zwischenbericht trafen, mussten sie eingestehen, dass es nur begrenzte Fortschritte gegeben hatte, und selbst das war ein Euphemismus, weil die Arbeitslosigkeit gestiegen war und die Arbeitsproduktivität nicht signifikant zugenommen hatte. Der erwartete Quantensprung war ausgeblieben, und das Ziel, die dynamischste Region in der Weltwirtschaft zu werden, schien ferner denn je. Obwohl aus dem Europa der 15 nun ein Europa der 25 geworden war (und sich mit dem Beitritt Kroatiens 2013 zu einem Europa der 28 entwickeln würde), war dabei keine enger verbundene Union entstanden. Im Gegenteil, die Zentrifugalkräfte waren stärker geworden, was sich manifestierte im Votum gegen die gemeinsame europäische Verfassung, zuerst in Frankreich und später in Holland.
Es gab ein böses Erwachen. Eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik schien ferner denn je zu liegen. Der frühere Europa-Optimismus war einer Welle von Europa-Pessimismus gewichen, der nicht nur Ausdruck einer gewandelten Stimmung war, sondern der verspäteten Erkenntnis, dass der Kontinent vor enormen Problemen stand, mit denen er bislang nicht zu Rande gekommen war. Es ging nicht mehr um Europas Aufstieg zur führenden Supermacht, sondern um sein Überleben. 2006 glaubte die EU-Behörde in Brüssel immer noch, dass die Europäische Union im Jahr 2020 noch etwa so aussehen würde wie heute. Doch selbst wenn das zuträfe, bliebe die Frage offen, wie der Rest der Welt in diesem Jahr aussehen und was das besondere Gewicht Europas in dieser Welt sein würde.
Vergreisung
Die Welt vergreist, Afrika und einige andere Gebiete ausgenommen. Europa vergreist sogar noch schneller.
Mein Großvater väterlicherseits, Müller von Beruf, wurde 1850 geboren und lebte in Oberschlesien. Er hatte sechs Kinder. Drei seiner sechs Kinder hatten keine eigenen Nachkommen, zwei hatten je zwei und einer hatte ein einziges Kind. Das gibt in einer Kurzfassung die Geschichte der Bevölkerungsentwicklung in Europa wieder. Die europäische Durchschnittsfamilie hatte im 19. Jahrhundert fünf Kinder, doch die Zahl sank ständig, bis sie vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den größeren europäischen Ländern unter die Reproduktionsrate fiel. Es gab kurze Zeiträume, als der Trend wieder gegenläufig wurde, etwa den Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Geburtenrate in den europäischen Ländern über 2,2 stieg und in den Niederlanden, in Irland und Portugal sogar über 3,0 (diese Zahlen geben die Kinder pro Haushalt wieder). Doch das dauerte nicht mal ein Jahrzehnt, und seit den späten 1950er-Jahren hat sich die Absenkung fortgesetzt, bis auf die letzten paar Jahre, als es teilweise (oder größtenteils) aufgrund der Einwanderung einen leichten Anstieg gab.
Gegenwärtig liegt die gesamte Fertilitätsrate für Europa unterhalb der Reproduktionsrate. In Italien und Spanien, um ein weiteres Beispiel zu geben, werden gegenwärtig halb so viele Kinder geboren wie vor 40 Jahren. Wenn sich dieser Trend fortsetzt (und es ist schwer vorstellbar, warum sich eine nachhaltige Umkehr einstellen sollte), wird in 100 Jahren die Bevölkerung Europas nur einen Bruchteil dessen betragen, was sie heute ist. In 200 Jahren könnten einige Länder ganz verschwunden sein.
Das ist gewiss ein auffallender Trend in Anbetracht dessen, dass Europa noch vor 100 Jahren das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Welt war. Afrika bestand fast ausschließlich aus europäischen Kolonien, und Indien war das Juwel des britischen Empires. Deutschland, Frankreich und Russland hatten die stärksten Armeen der Welt, Großbritannien die größte Marine. Die europäische Wirtschaft war führend in der Welt; Amerika machte große Fortschritte, hatte aber noch einen weiten Weg vor sich, und wenige nahmen davon Notiz. Politisch und kulturell zählten nur London, Paris, Berlin und Wien; es gab keinen vernünftigen Grund, warum europäische Studenten auf amerikanische Universitäten gehen sollten, die in jeder Hinsicht den europäischen unterlegen waren (außer vielleicht auf dem Gebiet der Zahnheilkunde, das aber noch kein Studienfach war).
Es gab Wolken am Horizont, beispielsweise die revolutionären Unruhen 1905 in Russland. Doch auch in Russland gab es beträchtliche wirtschaftliche Fortschritte. Zwischen den
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