Europa, unsere neue Heimat

einer das Korn nicht mehr liefern konnte. Gigantische Finanzkonzerne standen vor dem Nichts, auch schon vor dem Niedergang der Lehman Brothers, dem offiziellen Beginn der Finanzkrise. Niemand konnte sich mehr refinanzieren, also weiteres Geld ausborgen, also weitere Schulden machen.
    Das hört sich schlimm an: Der Finanzsektor bricht zusammen. Millionen von Bankmitarbeitern weltweit stehen vor der Kündigung. Aber das interessierte, glaube ich, ohnehin keinen. Viel wichtiger waren die Interessen der Moloche, jener leblosen Monster, die unsere neue Welt zu beherrschen scheinen.
    Die Lobbyisten waren am Zug. Da ihr Einfluss auf die Politiker schon so groß war, schafften sie gemeinsam etwas bisher Undenkbares. Sie organisierten in Windeseile Summen zur Unterstützung der Banken, die wir uns nicht einmal vorstellen können.
    Woher kam dieses Geld, diese Unsummen, die selbst ein geübter Banker kaum erfassen kann? Jetzt verstehe ich erst die Aussagen der Politiker: »Es ist ja gar kein reales Geld, es sind nur Haftungen!« Aber jeder, der je für einen Kredit gebürgt hat und dann zur Kasse gebeten wurde, wird jetzt Schaum vor dem Mund bekommen. Es ist ja nur eine Haftung! Welche Ironie! Wenn das Geld ohnehin nie einer haben will, warum haften wir dann? Weil irgendwann das Geld tatsächlich jemand wird haben wollen. Und es ist bereits so weit. Jetzt müssen wir Steuerzahler blechen. Im Falle Griechenlands ist es bereits mehrmals passiert. Reales Geld ist geflossen, und zwar in Massen.
    Im Gegensatz zur Finanzwirtschaft gibt es leider niemanden, der uns helfen wird, wenn unser Geld weg ist, denn wir sind das letzte Glied in der Kette. Unser Geld ist verschwunden, und wir werden es niemals wiedersehen. Es hat ja auch niemand. Nicht einmal die Banken. Die haben damit nur ihre Verluste aus den Spekulationsgeschäften abgedeckt. Geschäfte, die es real gar nicht gab, sogenannte Derivatgeschäfte.
    Es ist für mich der einzige denkbare Erklärungsansatz. Fällt Ihnen ein anderer ein, dann kontaktieren Sie mich bitte sofort. Ich werde gerne mit Ihnen reden und mich belehren lassen. Ändern wird es nichts. Unser Geld werden wir trotzdem nie wiedersehen.
    Aber wenn man kein Geld hat, muss man wieder welches verdienen. Wie verdient eine Volkswirtschaft, also die Bevölkerung eines Landes Geld? Indem viel gearbeitet wird? Ja, das war vielleicht früher so. Aber auch hier belehrt uns die EU eines Besseren. Wir müssen jetzt schon mehr arbeiten – aber für wesentlich weniger Geld. Unsere Arbeit ist für die Konzerne immer weniger wert, weil andere Länder wie China und Indien mit weit weniger Lohn auskommen. Daher müssen wir das auch. Das nennt man Globalisierung.
    Und wo ist unsere Regierung, wo sind die klugen Leute in Brüssel, die eigentlich die Aufgabe hätten, dies zu verhindern? Sie tanzen auf Bällen mit den Lobbyisten und hören uns nicht einmal mehr. Wir sind zu weit weg.
    Â»Einzelne Nationalstaaten können dieses Problem nicht mehr lösen, das kann nur gemeinsam in Brüssel erreicht werden!«, sagen die Politiker. Das mag stimmen, aber dort erreichen sie auch nichts. Wir wissen inzwischen warum.
    Jetzt können wir uns besser vorstellen, was wahrscheinlich geschehen wird. Es wird im Turbogang weitergehen wie bisher. Unser Vermögen fließt unaufhaltsam aus Europa ab. Die ärmeren Länder sind schon bankrott und die reicheren wird es früher oder später auch erwischen, dank der Finanzkrise.
    Blicken wir kurz noch einmal in die Vergangenheit zurück. Auf einmal war die Finanzkrise da. Keiner wusste, was das bedeutet und wieso uns das eigentlich betreffen soll. Alles war so theoretisch. Von Refinanzierung war die Rede, vom Zusammensturz des Finanzsystems, von Ratings und Spekulationen. Ich glaube nicht, dass der normale Bürger diese Begriffe vorher überhaupt kannte. Banken hatten Probleme, sonst keiner. Kurz darauf entstand der Begriff Realwirtschaft. Was sollte das nun wieder heißen? Gibt es denn eine irreale Wirtschaft?
    Es gibt eine reale Wirtschaft, jene, die wir immer kannten und auch heute noch kennen. Menschen arbeiten, um Geld zu verdienen, und Firmen geben ihnen diese Arbeit. Die irreale Wirtschaft macht uns aber noch zu schaffen. Es hat etwas mit Banken und dem Finanzwesen zu tun. Banken sind jene, die uns Kredite geben und bei denen wir Geld veranlagen können.
    Das Finanzwesen ist aber noch mehr. Das sind