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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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oben bis unten an und sagte dann: Nun, Genossin, du weißt doch, dass man dir eine wirklich große moralische Verantwortung übertragen hat?
    Ja, Genosse Stalin, ich …
    Ich zweifle doch sehr daran. Hör mal zu. Wir wollen nicht, dass diese alte Fotze uns den ganzen Ärger noch einmal macht. Dass sie mit Lenin das Badezimmer teilt, heißt noch lange nicht, dass ich ihr Respekt zollen muss. He! Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du bist doch nicht krank, oder?
    Nein, Genosse Stalin.
    Sie soll dich hassen, und sie darf dich nicht auf irgendetwas festnageln. Mystifikation ist gefragt, kapiert? Nu, du bist ein Jid, also machs wie ein Jid.
    Stalin wollte, wenn die schwarzgekleidete Frau es korrekt entschlüsselt hatte, dass sie die Krupskaja bestrafte und ihr Angst einjagte. Jede Silbe, die ihren Mund verließ, musste sich auf die Seele der großen alten Dame stürzen wie ein raubgieriges Tier.
    Anders als andere Gefangene dieser Epoche konnte die Frau die Zukunft so deutlich vor sich sehen wie einen sechszackigen Stern aus purpurnem Feuer, um den alle Zeichen des Himmels herumwirbelten. Bis sie aus dem Leben geschieden war, würden Lenin und Stalin fürchten müssen, dass der Schwindel aufflog. Und daher musste sie sich auf aphoristische Äußerungen beschränken. – Ihre Angst schwang sich nun höher auf, bis ihr klar wurde, dass ihr selbst ein so obskurer Kurs, Mystifikation, wie er es nannte, nichts nützen würde. Was sie auch tat oder sagte, sie war verloren.
    Und so fühlte sie sich sogar noch stärker ins Schweigen geworfen als Fanny Kaplan, die nichts getan hatte, als aus dem Fenster ihrer Zelle zu starren und auf die Kugel in den Rücken zu warten. Alles war ganz aussichtslos.
    Aber sobald die Krupskaja in ihre Zelle getreten war, wurde die Frau von Mitleid ergriffen. Sie wollte sich an die Worte halten, deren Lettern
sie so unruhig umtanzten: Das Los wird geworfen in den Schoß, aber es fället, wie der HERR will. [ 7 ]
    11
    Die meisten Literaturkritiker sind sich einig, dass man Dichtung nicht auf reine Behauptung reduzieren kann. Solide gebaute Protagonisten erwachen zum Leben, Pornografie erzeugt Höhepunkte, und die Täuschung, das Leben sei so, wie wir es gerne hätten, mag durchaus den herbeigesehnten Zustand zeitigen. Daher religiöse Parabeln, sozialistischer Realismus, Nazipropaganda. Und wenn es in dieser Geschichte ebenso von reaktionärem Supernaturalismus wimmelt, dann vielleicht deshalb, weil ihr Verfasser sich danach sehnt, Buchstaben über Zimmerdecken huschen und zart in Engel sich verwandeln zu sehen. Denn wenn sie es können, warum dann nicht wir?
    Eine ähnliche Sehnsucht nach Selbstbestimmung beseelte zweifelsohne die Gefangene, als sie mit ihrer tiefen und bleiernen Stimme wisperte: Nadeschda Konstantinowna, haben Sie je die Kabbala gelesen?
    Ich habe keine Zeit für solchen Schund. Sie können sagen, was Sie wollen …
    Es steht geschrieben, der Mensch sei die tätige Hand und Gott der Schatten. Nur der Mensch kann Gott retten. Und nun sind Lenin und Sie die beiden Götter Russlands. Streiten Sie es nicht ab, Nadeschda Konstantinowna! Sie selbst sind Gott. [ 8 ] Und nur ich kann Sie retten. Nur ich kann Ihre Glorie wiederherstellen.
    Die Krupskaja erhob sich halb und starrte sie verblüfft an. – So eine sind Sie also, sagte sie. Sie sind nicht einmal intelligent.
    Überhaupt nicht. Aber wenigstens bin ich wirklich . Ich habe versucht, Lenin zu ermorden, weil er Gott sein wollte, aber nun, da er sein Ziel erreicht hat, ist er mein Schatten geworden, und ich muss ihn anbeten. Und auch Sie mit ihrem Zittern, ihrer Einsamkeit und ihrer Albernheit, auch Sie sind mein Schatten! Nur um meinetwillen sind Sie hier …
    Sie gehören ins Irrenhaus. Ich gehe.
    Ich suche nach verborgenen Welten, sagte die Frau der Krupskaja ins unerschütterlich glotzende Gesicht. Und dann flüsterte sie ganz leise (da hinter der Wand bestimmt Stalin lauschte): Sind Sie sich selbst treu?
    Ich muss doch bitten! Vor Ihnen habe ich mich nicht zu rechtfertigen, Sie Mörderin!
    Ich bin nicht auf Rechtfertigungen aus, Nadeschda Konstantinowna. Ich bitte nur um Ihr Mitleid.
    Der Krupskaja schlug das Herz bis zum Hals. Sie rieb sich die Stirn, schnappte nach Luft und fragte sich, wann ein Schlaganfall ihr den Rest geben würde.
    Werden Sie mir Ihr Mitleid schenken?, forderte die Frau.
    Ich …
    Sehen Sie mich an. Sehen Sie, wo ich bin. Werden Sie mir Ihr Mitleid schenken?
    Die Krupskaja wollte weinen, aber das

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