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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Referenzscheiben aus gefärbtem Glas abgeglichen hatte, genügten beide den Anforderungen, und so war ihr Ariertum wissenschaftlich belegt. Bei einem lokalen Wettbewerb stand sie oben auf einem Reifen, Hakenkreuzflaggen in den ausgestreckten Händen. Dann lud man sie zur Teilnahme am Aufmarsch von Nürnberg ein, wo sie sich mit zwei anderen Mädchen ein Zelt teilte und mit eigenen Augen den Führer sah! (Mit ihren Zeltgenossinnen blieb sie in Kontakt. Eine hatte schon in einem Lebensborn-Heim ein arisches Zwillingspaar zur Welt gebracht. Die andere fertigte jetzt Zünder für Achtundachtzig-Millimeter-Granaten, ihr Beitrag zum totalen Krieg.) Kurz nach dem Röhm-Putsch errang sie das Reichssportabzeichen, Voraussetzung für jedes Mädchen, das einen-Mann heiraten wollte. Himmler, der wusste, wann er Vollkommenheit vor sich hatte, ließ sie in der Kartei des Rasse- und Siedlungshauptamtes derpersönlich in der obersten Kategorie einstufen.
    Ihrem ersten Mann begegnete sie 1938 beim Julfeuer. Alles an ihm kam ihr genau richtig vor, von seiner Gewandtheit beim Tanz bis zum seltsam sanften Blick der Babyaugen seines Totenkopfabzeichens. Dann ging alles ganz schnell. Bei ihm eingehakt, den Blumenstrauß in die Armbeuge geklemmt, schritt sie durch die Gasse aus zum Hitlergruß erhobenen Händen, und die Hochzeitsgäste riefen: Sieg Heil! Sieg Heil! Deutschland war schon im Krieg, also hatte sie Otto nach den Flitterwochen kaum noch gesehen. Zwei Jahre später (zufällig um die Zeit der Gefangennahme Wlassows – der eine Mann geht, der andere kommt, so spielt die Drehtür des Lebens) erhielt Heidi das Telegramm des Regiments, das verkündete:. Sie rahmte es sich sofort ein. Sein befehlshabender Offizier schrieb noch einen Brief und versicherte ihr, sein Tod sei heldenhaft und leicht gewesen. Auch das rahmte Heidi sich ein. Sie erhielt sich den beinahe jungfräulichen Glauben, dass das Schicksal ihr nun, da sie gelitten hatte, wahrscheinlich keine weiteren Opfer abverlangen würde. Erst bei der Totenwache an seinem Sarg mit der Hakenkreuzfahne darüber, als ihre Mutter ihr die Hand hielt und so viele seiner Kameraden strammstan
den, mit Wachsfackeln in den Händen, begriff Heidi den Ernst dieses Kampfes gegen die jüdischen Banditen. Langsam begann sie gewisse Bemerkungen und ein gewisses Schweigen zu verstehen, die sie bisher als sinnlos rätselhaft oder gar defätistisch abgetan hatte. Ihre Mutter, die weiter darauf vertraute, dass sich für alles eine gute Lösung finden lassen würde, tat ihr Bestes, Heidi zurück in das spiegelklare Reich des Glaubens zu führen, was ihr sogar schneller als gedacht gelang; denn es drängte die Witwe, sich, ganz Kind ihrer Zeit, in völliger Hingabe zu üben und zu beweisen, dass sie stark sein konnte bis in den Tod. Täglich ging sie zum Übungsschießen. Der Mutterschaft zum Trotz verfügte sie weiter über den stromlinienförmigen Körper und die gesunden Gelüste eines Sportsfräuleins. Sie liebte das Bergsteigen, Skifahren und andere Leibesübungen, getreu der klugen Nazi-Maxime: Wurfspeer und Sprungbrett sind der Gesundheit förderlicher als der Lippenstift.
39 Wlassow war es schon ein Genuss, sie einfach nur essen zu sehen: deutsches Weißbrot, mit süßer Butter bestrichen (nicht einmal Apparatschiks konnten in Russland so speisen), große Humpen deutsches Bier, ein halbes Brathähnchen auf einmal. Bei solchen Gelegenheiten strahlte ihr Gesicht vor reiner Lust, so eifrig, dass es ihn einfach nicht mehr in seiner Trübsal hielt. Falls in seiner Bewunderung für das, was er für ihre Unschuld hielt, etwas Herablassendes lag, nun, die Herablassung geht einher mit der Schaulust des alternden Mannes, der tun möchte, was er nicht mehr kann. Das blasse, traurige Antlitz seiner Tadellosigkeit hatte sich für immer hinter den Verdunklungsvorhang zurückgezogen. Er war nun befleckt; er war gereift. Warum sollte er die Albernheiten eines Menschen, der sich zu seinem eigenen Glück moralisch noch im Kinderstadium befand, nicht mit Vergnügen betrachten? Außerdem hatte Heidi einen beeindruckenden Vorbau.
    Ob ich dich liebe, weiß ich nicht, teilte er ihr mit der üblichen Offenheit mit. Aber nach dieser ganzen Zeit habe ich, habe ich starke sexuelle Empfindungen …
    Lächelnd sagte sie auf: Das Gesunde ist ein heroischer Befehl.
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    Meistens langweilte sie sich schrecklich. O ja, sie war tot, einsam, isoliert; was sie liebte, lag in weiter Ferne unter russischer Erde. (Kein Name

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