Europe Central
lauerte; nie sollte Generalleutnant Paulus' Sohn Ernst erfahren, dass der Vater den Vorstoß seines Panzers durch den Feldstecher beobachtete; ein gewisser Unteroffizier, dessen Hobby es war, Bach-Kantaten auswendig zu lernen, hatte Paulus anvertraut, Ernst sei einer der tapfersten Soldaten, die er je gesehen habe. – Das ist für ihn eine Frage der Ehre, hatte der Unteroffizier gesagt. – Am gleichen Abend übermittelte er Coca diese Worte in einem Brief. Personen, unbelastet von seinem Wissen, dass die Zahl der Dreieckswimpel, die noch glänzend und unbenutzt in ihren Schachteln bei den OKH -Reserven lagen, begrenzt war – und zu diesen unbelasteten Personen zählte er Generalmajor Schmidt –, mochten sehr wohl glauben, zum Beispiel auf der Grundlage des Aufmarschs von Nürnberg damals am 11.9.38, als der Führer vor einhundertzwanzigtausend strammen Soldaten, die Schultern eckig wie Grabsteine, die Stahlpilzköpfe symmetrisch und ohne Ende auf jene Insel auf Beton zustürzend, auf der unser Führer stand, mit drei riesigen Hakenkreuzbannern im Rücken, die hoch über den Baumwipfeln aufragten, dass sich immer noch mehr Männer würden auftreiben lassen; aber so viele Männer waren nun schon gefallen! Wir konnten auf die kahlgeschorenen Kosaken an unserer Seite nicht verzichten; einige hatten wir schon, aber wir brauchten sie alle, und dazu jeden männlichen Ukrainer von sechzehn Jahren an aufwärts; die Frauen sollten Gräben ausheben; wir mussten uns unsere Reserven besorgen, wo wir konnten, aber leider hatte der Führer gesagt … Paulus konnte sich noch erinnern, wie die mittelalterlichen Straßen Nürnbergs während des Aufmarschs anno 36 geradezu mit marschierenden Helmträgern gepflastert gewesen waren; er war dabei gewesen, die ganz in Samt gekleidete Coca an seiner Seite; voller Stolz hatte er den Hörner
klang gehört und die präsentierten Gewehre der perfekten Zehnerkolonnen gesehen, deren eisenbeschlagene Schritte so melodisch klirrten wie Wagners Siegfried beim Schmieden seines Schwerts; er erinnerte sich an die große Kavallerieparade von '35, und wo waren diese Männer jetzt? Erst Warschau, dann Moskau; erst das Schwarze, dann das Kaspische Meer; erst Rostow im Sommer, dann der schmutzige Schnee und das Mondeis auf der Mamajew-Höhe; erst motorisierte Kolonnen in perfekter Formation, dann kaputte Männer und Motoren, Panzer mit roten Fahnen darauf, von Detonationen aufgewirbelter Schnee; und Generalleutnant Paulus saß da, den Blick auf den Boden gerichtet, die Hände im Schoß gefaltet.
Im vergangenen August hatte kein Geringerer als der Genosse Stalin eine Million Wolgadeutsche deportieren lassen, damit sie uns nicht helfen konnten. Wenn sie jetzt hier wären! (Und wo waren sie? In Sibirien, vermutete er, und vielleicht in Kasachstan …)
Generalmajor Schmidt mahnte ihn, stärker auf den Siegeswillen der 6. Armee zu vertrauen. – Leider, erwiderte er kühl, kann ich Ihrem Vorschlag nicht Folge leisten.
Am 3.11.42, als Feldmarschall Rommel dem OKW meldete, er werde von überlegenen Feindkräften aus El Alamein verdrängt, stellte Generalleutnant Paulus voller Unbehagen fest, dass der Feind sich in Dörfern im Süden und Westen zu verschanzen schien und sich offenbar in auf Dauer eingerichtete Verteidigungsstellungen eingrub. Aber man gewöhnt sich an alles. Für ihn war es Normalität geworden, erst in Frankreich Armeen zu schlagen und Städte einzunehmen und dann in Stalingrad zu kämpfen, ohne Ende. Coca wartete noch immer darauf, dass er den Marschallstab mit nach Hause brachte. (Seit der Beförderung von Mansteins im Juli war niemand mehr Feldmarschall geworden.) Er stand nun unter so hohem Druck, dass er versuchte, an nichts anderes mehr zu denken als an den nächsten Angriff, die nächste Verminderung der Truppenstärke der 6. Armee, und so wie wir alle Augenblicke und Jahre ins Land ziehen lassen und uns klug dabei vorkommen und uns immer in der Hoffnung, fast Sicherheit wiegen, dass es morgen mit den vorübergehenden Schwierigkeiten von heute vorbei sein und uns kein neues Unglück mehr ins Haus stehen werde, so glaubte er, und vermied es, diesen Glauben zu hinterfragen, dass Stalingrad, wenn er nur noch ein paar tausend Männer der 6. Armee in den Tod schickte,
eingenommen werden würde. In Wahrheit begeisterte ihn die Lenkung der Geschicke der 6. Armee nicht mehr so, wie er erwartet hatte. Nun, er war schließlich nicht mehr jung; ein langer Urlaub mit Coca wäre wirklich
Weitere Kostenlose Bücher