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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, und rissen noch ein paar Fotografien aus ihren Kriegsalben; in der überraschenden Stille der Schweizer Alpen, der feuchten warmen Sommerruhe, würden sie neue Karrieren planen. Genau wie die Schweizer Berge weite, tiefe Täler aus Grün und Grau zwischen sich haben, über die die Zeit im Wolkenkleid hinwegzieht, so würde sich »die Nachkriegszeit«, die unser Führer Zwischenkriegszeit genannt hätte, vor ihnen ausbreiten, begrenzt nicht von Gefängnismauern, sondern von Lawinenzäunen und terrassierten Weinbergen. Im Gästezimmer oder im Schrank vielleicht, eher noch in einem Bankschließfach würden sie das goldene Kettenhemd aus Transsylvanien bewahren. Einmal zu Weihnachten oder Ostern würde man den Weinkelch hervorholen, der aus einem riesigen Schneckenhaus (oder war es eine Nautilusmuschel?) bestand, mit einer goldenen Frau als Stiel, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, auf einem nach Luft schnappenden goldenen Fisch; er erinnerte irgendwie an die blonden Felder Polens. Aber all das lag noch ein halbes Jahr in der Zukunft. Bis zur letzten Sekunde erschossen sie Intellektuelle, Juden über Juden, Kommunisten, polnische und russische Soldaten, Krankenhauspatienten und Verrückte. (Natürlich nie unter den Augen der Generäle, ganz nach einer mit dem Stempelversehenen Vorschrift.)
    Was Gerstein anging, so hielt er weiter seine gefährlichen verbotenen Treffen ab und versuchte immer, zu warnen und mehr über die jüngsten Verbrechen des Dritten Reiches zu erfahren, die Massenhinrichtungen in Plötzensee, die Vergeltungsmaßnahmen in der Slowakei, Dr. Brachtels Leberpunktions-Versuche, in die Luft gereckte Judenhände, verzweifelt wegschauende Judenaugen,-Männer und Ordnungspolizei, die verschwiegene Häuser plündern, Wehrmachtslastwagen, die handhabbare Ladungen Juden zu den Gruben im Wald karren. Im Büro setzte er seine Buchhaltertätigkeit fort. Der »Schlaue Hans« Günther hatte zum Beispiel offenbar ungefähr zweihunderttausend Menschen ermordet. Gerstein versuchte, Zwischensummen für Böhmen und Mähren zu
errechnen, ohne Erfolg.
56 Weiter ritt er im Geiste durch den dunklen Wald. Dann lag er matt im Bett und wartete, dass er zum letzten Mal verhaftet wurde.
    Im August '44 sehen wir ihn an seinen Vater schreiben: In einem irrst du übrigens: Ich habe mich zu nichts von all dem hergegeben. Wenn ich Befehle erhielt, habe ich sie nicht ausgeführt und die Ausführung verhindert. Ich selbst gehe aus dem Ganzen mit sauberen Händen und reinem Gewissen hervor.
57 Unter hohem Risiko hatte er noch ein paar Lieferungen Zyklon B fehlgeleitet. Auch hatte er die Rezeptur verändert, um den Todeskampf der Opfer weniger qualvoll zu gestalten. Warum soll man ihn nicht ebenso zum Helden erklären wie-Obersturmführer Michael Wittmann, dem man das Ritterkreuz verlieh, weil er im Alleingang sechsundsechzig Sowjetpanzer ausgeschaltet hatte?
    Am 25.5.45 stellte er sich den Amerikanern und versorgte sie mit detailliertem belastendem Material gegen Wirth, Pfannenstiel, Günther, Eichmann, Brack, Höß und wie sie alle hießen, jedes Blatt geschmückt mit Adler und Hakenkreuz. Seiner Frau sagte er: Man wird von mir hören, verlass dich drauf! Du wirst dich wundern, was ich alles getan habe …
58
    Da lebte sie mit den Kindern schon von trockener Brotrinde, »Stalintorte«, wie wir sie inzwischen nannten. Als es Sommer wurde, konnten sie ein paar Johannisbeeren pflücken. – Wir werden uns noch wundern, sagt dein Vater, erzählte sie Christian mit müdem Lächeln.
    Aber die Amerikaner schickten Kurt Gerstein nach Hause. Also ging er sich den Franzosen andienen.
    Sie sperrten ihn mit anderen-Offizieren in Paris ein. Am 10.7.45 eröffneten sie ein Verfahren wegen Völkermordes gegen ihn.
    39
    Als Parzival entehrt wurde, weil er das Böse, das von der Gralsburg Besitz ergriffen hatte, nicht in Frage stellte, zog er aus, seinen guten Namen wiederherzustellen. Beizeiten begegnete er seinem scheckigen Bruder, bezahlte für seine Schuld, bekehrte seinen Bruder und wurde König. Leider war Kurt Gerstein solches nicht vergönnt, nachdem er entehrt worden war, denn am 25.7.45 warf der Schließer einen Blick in seine Zelle und fand dort seine erhängte Leiche.
    Im Jahr 1949 weigerte die Entnazifizierungs-Spruchkammer von Tübingen sich, ihn zu rehabilitieren, und stufte ihn »in die Gruppe der Minderbelasteten« ein. Uns war er kein Kamerad gewesen.
    Im Jahr 1955 stellte ein Gericht

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