Europe Central
hatte er recht! Ich freue mich, sagen zu können, dass sein Buch die politischen Lektionen aus dem Krieg, der uns, wie wir alle wissen, von den räuberischen Interessen der internationalen Bourgeoisie aufgezwungen wurde, unmissverständlich verdeutlicht. Was man von diesem General nicht erwarten darf, ist eine strategische Gesamtperspektive. Europa, die Zentralfront, die Woronescher Front, mit der Steppenfront als strategischer Reserve, all diese Zahlen und Größen sind für uns schon durch einen weit überlegeneren Mathematiker in Gleichungen und Tabellen dargestellt worden (ich meine natürlich den Genossen Stalin); trotzdem versäumt der Genosse Tschuikow es nicht, unseren Blick auf das Entscheidende zu richten: Die zögernde Haltung unserer westlichen Alliierten bei der Eröffnung der zweiten Front in Europa schätzten wir, die sowjetischen Militärs, viel richtiger ein, als uns die zahlreichen ›vertraulichen‹ Informationen und Versicherungen der westlichen Politiker glauben machen wollten.
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Man erzählt sich, eines Abends zwischen den Schlachten von Stalingrad und Kursk habe Tschuikow, der, wie gesagt, einen Hang zur Literatur hatte, die feindlichen Stellungen studiert. Als er einen Fehler in der deutschen Aufstellung bemerkte, lächelte er, wies den Kommissar darauf hin und sagte eine Strophe von Marina Zwetajewa auf: Du kannst mir nicht widerstehen, denn ich bin überall / im Abendrot, unter der Erde, im Atem, im Brot! Ich bin allgegenwärtig. So werde ich / deine Lippen erobern!
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Der Kommissar lachte. Er mochte Tschuikow, bewunderte dessen Leistungen und sah keinen Grund, über diese Schwäche für eine ungesunde Lyrikerin (und übrigens Selbstmörderin) Meldung zu machen. Von größerer Bedeutung war die Frage: Wie hatte die Zwetajewa ihn infiziert?
Angeblich soll auch Elena Konstantinowskaja das Ich werde deine Lippen erobern! gehört haben, obwohl: wie?, das ist die Frage. Was hatte sie dort denn überhaupt zu suchen? Gewiss, sie war eine professionelle Dolmetscherin; war sie vielleicht an den Verhören gefangengenommener Faschisten beteiligt? Man kann nicht davon ausgehen, dass der Auftrag ihres Gatten um eine Rolle für sie erweitert worden wäre – in jenen Kriegsjahren lebten und arbeiteten Eheleute voneinander getrennt. Anderseits, warum denn nicht? Der Gatte, R. L. Karmen, verfügte über einen Einfluss, der über den eines Dokumentarfilm-Kameramannes weit hinausging, und er hätte für sie alle Hebel in Bewegung gesetzt. Er hätte sie mit einer weißen ZIS -Limousine abholen lassen.
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Draußen stieg Dampf aus dem Haferbrei auf dem schweren fahrbaren Ofen. Zwei Soldaten rasierten einander über einem Zuber mit schmutzigem aufgetautem Schnee. Der Panzerkommandant mit dem Stachelschwein als Maskottchen träumte einen feuchten Traum von Elena Konstantinowskaja. Elena hatte ihrerseits beinahe die Korrekturen ihrer Übersetzung eines abgefangenen Funkspruchs der Neunten deutschen Panzerdivision abgeschlossen. Ihr Mann war in weiter Ferne und interviewte eine Frau vom 46. Gardefliegerregiment; sie würde die perfekte Heldin für das Sowkino-Journal abgeben, was er ihr auch sagte,
mit seinem offenen, schiefen Grinsen. Die Nachtbomberpilotin kicherte verhalten. Sie amüsierte sich königlich. Elena schob Übersetzung, Original und all ihre Notizen in einen Umschlag, klebte ihn zu und setzte ihre Unterschrift auf die Lasche, rauchte eine deutsche Zigarette, knöpfte sich die Jacke zu, setzte die Pelzmütze auf, prüfte den Sitz ihrer Frisur, schlug die Klappe ihres Zeltes zurück und machte sich auf, ihre Arbeit bei einem sehr freundlichen Nachrichtenoffizier abzugeben, einer Frau, die darauf bestand, dass Elena sie Natalja Kowalowa nannte und nicht Leutnant Dantschenko. Natalja Kowalowa war natürlich eine Angehörige der »Organe«, also wurde sie von allen gemieden. Zweifellos wusste sie, dass Elena damals 1936 abgeholt worden war. Elena hasste sie.
Als sie am Zelt von General Tschuikow vorüberkam, hörte sie eine fröhliche Stimme, ganz offensichtlich die seine, rufen: Ich werde deine Lippen erobern!
Sie war ihm schon mehrfach begegnet. Am deutlichsten erinnerte sie sich an sein müdes Gesicht.
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Alle hatten wir eine besondere Trophäe im Kopf, die wir uns in Berlin sichern wollten. In Karmens Fall war es der Schreibtisch des Schlafwandlers in der Reichskanzlei. Angeblich war er mit einem eingelegten Medusenhaupt geschmückt. Er hätte gern seine Füße darauf gelegt, während er
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