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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Gorkistraße hinuntergerasselt (in Dreierreihen). Schnell! Ich duckte mich, damit sie mich nicht sehen konnten. Elena sah enttäuscht aus, aber nur einen Augenblick lang, da ich nicht echt war; sie träumte schon von einem anderen, wahrscheinlich einem gewissen, nun, Sie wissen schon. Wo war er? Ich erspähte die drei Schornsteine der Aurora über dem Eis des Hafens; dort drüben setzte das Kaufhaus Uniwermag Stalingrad ein Denkmal; wenn ich doch nur den Ehernen Reiter sehen könnte … Schöne Frauen von der Heimatfront marschierten an der langen Fassade des Winterpalastes vorüber, die Gewehre in den Himmel gerichtet; noch hungerten sie nicht. Dann hörte ich das unverkennbare Klackern von Schostakowitschs Fingernägeln auf den Klaviertasten; er setzte gerade zu seiner Klavierfassung der 7. Sinfonie an; Elena Kruglikowa sang bereits. Da saß er! Ganz deutlich konnte ich ihn durch ein vom Eise befreites Rund in einem Fenster sehen. Was für ein interessantes Werk, ganz ohne die Irrwege des Atonalen; insbesondere das Rattenthema, zu dem ich gleich tanzen wollte. (Aber ich bin mir sicher, hätte ich nicht heimlich gelauscht, dann hätte es mir nicht halb so gut gefallen.) Ich wartete, bis er fertig war. Er erhob sich vom Klavierhocker, verbeugte sich ungeschickt, die Hände zu Fäusten geballt, und E. Kruglikowa, der er im wirklichen Leben vielleicht nie begegnet war (ich habe jedenfalls keine Belege dafür), lächelte strahlend; sie trug ein offiziöses schwarzes Kleid und ein Halsband aus gefrorenen Tränen. Ihre Freunde applaudierten und imitierten so das Rauschen eines illegalen Senders.
    Ich bitte um Vergebung; das war doch nichts Richtiges , entschuldigte sich Schostakowitsch (der den Decknamen ELENKA trug; das hatte ich versäumt, Ihnen zu sagen).
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und feuerte wie geplant meine Faustpatrone auf ihn ab, dann legte ich mit einem leichten Maschinengewehr nach, bis alle tot waren, rußschwarz und pockennarbig wie die St.-Hedwigs-Kathedrale – darauf können Sie Gift nehmen! Er war dahin, genau wie das Romanische Café. Seine abgerissenen Hände krabbelten eilig in den Flügel, wo sie offenbar in einer Art Nest oder Versteck hausten; aber mit diesem Flügel hatte ich meine eigenen Pläne! Zwei Handgranaten später war nicht einmal ein Zahnstocher davon übrig. Ich wartete. Ganz vorsichtig sickerte Blut aus diesem Haufen Säge
späne, also musste ich sein Herz endlich erwischt haben. Dann lugte ein himmelblauer Eiszapfen heraus und ich zertrampelte ihn.
    Ich weiß, ich sollte das akzeptieren und endlich, sozusagen, nun ja, tot sein, sagte Schostakowitsch und schob sich mit Bedacht die blutigen Zähne wieder in den Mund, besonders weil heutzutage nicht mehr so viele Menschen Musik hören. Das ist alles sehr … Aber ich kann nicht. Es gibt etwas in mir, das erlaubt mir nicht, mein, wie soll ich sagen, Schicksal anzunehmen.
    Ich wusste nichts zu sagen. Ich hatte keine Ahnung, was ich in meinen Bericht schreiben sollte. Mit einem Mal litt ich an dem, was wir früher Nervenkrise nannten – Gasmaske bitte selber mitbringen! Und Schostakowitsch plapperte weiter:
    Vielleicht wegen diesem Schwein , Sie wissen schon, diesem Bergsteiger aus dem Kreml, der auf seinen Berg aus Leichen klettert; ich hätte eine davon sein können, aber irgendwie ist es mir nie gelungen, mich geschlagen zu geben, musikalisch jedenfalls, meine ich, sonst habe ich mich natürlich auf jede nur denkbare Weise erniedrigt – nun, wenigstens bin ich nicht in die Partei eingetreten. Ich glaube, es ist eher so: Wenn man mich umbringen will, muss man mich zwingen, Lügenmusik zu schreiben …
    Ich räusperte mich und (warum nicht nett sein?) erdreistete mich: Was ist mit Ihrem »Lied von den Wäldern«, Herr Schostakowitsch? War das nicht ein wenig stalinistische Arschkriecherei?
    Ganz und gar nicht, lieber Freund! Ganz und gar nicht, sage ich! Sehen Sie, selbst das hat ein parodistisches Moment – nicht dass es diesem Schwein jemals aufgefallen wäre –, und es ist prallvoll mit Selbsthass. Aber heute Abend hasse ich Sie. Sie dürfen ja gerne ein Monster sein, aber müssen Sie auch ein Idiot sein?
    Herr Schostakowitsch, ich habe diese Sache so satt wie Sie.
    Jetzt konnte er sich die Brille wieder aufsetzen und mich anglotzen. Er sagte: Ein oder zwei Mal, das ist, na ja, ich habe mir gesagt, er wird es schon lernen. Aber nichts. Das ist jetzt fast nicht mehr komisch.
    11
    Wenn ich dranblieb, würde ich ihn

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