Europe Central
sonst ein endgültiges Four-Beat-Ende bereiten konnte. Wo gelangte Europa wirklich an ein Ende? Im Ural, so hatte man mir zu verstehen gegeben, gab es Orte, da war die Landkarte zu Bergen zerknüllt worden, dort hausten die Eisriesen. Aber eins nach dem anderen: Ich wollte nun das Opus 110 zur Auffüh
rung bringen: »Die Hinrichtung des Dimitri Schostakowitsch«. Der arme Mann! Es war nicht persönlich gemeint. Es war an der Zeit, über Trümmer und noch mehr Trümmer dahinzufliegen; ich orientiere mich (falls ich denn wirklich Orientierung suchte) an den parallel laufenden Eisenbahnschienen, die so zahlreich waren wie die Notenlinien in einem einzigen Takt von Wagners Ring ; lange Züge fuhren auf ihnen nach Osten, sie hatten deutsche Gefangene und Werkzeugmaschinen geladen.
Jemand versuchte mich zu küssen, aber ich wollte nichts davon wissen; ich wollte mich nicht von einer ostdeutschen Schwalbe fangen lassen. Die Kellnerin brachte mir noch ein Bier.
Und wo war ich nun gelandet? War ich betrunken oder einfach nur müde? Wie lange sang Klawdija Schulschenko schon nicht mehr? Ich wollte von einer warmen Stimme trinken; die der Elena Kruglikowa würde mir genügen, aber noch besser wäre die süßliche heisere Raucherstimme von Schostakowitschs bisexueller Muse. Ich versteckte mich im Niemandsland hinter einem Trümmerhaufen und spionierte einen hell angeleuchteten Torweg aus, das Letzte, was von dem Gebäude noch stand; spitz wie die Zacken eines Seesterns liefen seine zerklüfteten Ziegelkanten aus; totenbleich leuchteten sie im Dunkel; und auch im Tordurchgang war es dunkel; vor diesem Dunkel stand mit offenem Haar Elena Konstantinowskaja, die braunen Augen von Liebe und Trauer geweitet.
Ich wusste, dass man der Anima im Land der Träume auf Schritt und Tritt begegnete, und so überließ ich diese ihrer vielen Verkörperungen ihrem Kummer; bestimmt hatte sie sich gerade von Schostakowitsch getrennt. Verifikation (mittels Linsen der Fa. Zeiss): Tränen, fast so groß wie Pampelmusen, stürzten ihr die Wangen herab. Vom Genossen Alexandrow, der diesen Fall weiterhin genau im Auge hat und den Decknamen LJALKA trägt, habe ich gehört, die letzten Worte, die sie zu ihm sprach, oder vielmehr: die sie auf dem Weg treppab ausrief oder hervorschluchzte, als sie unseren Komponisten im Bett zurückließ, in Krämpfen wie einen jämmerlichen Schmerzenswurm (sie küsste ihn auf den Mund, dann auf die Stirn, dann ein letztes Mal auf den Mund; er presste die Lippen zusammen), lauteten, dass es ihr leidtue und sie ihn liebe. Er rief ihr nach, er liebe sie auch. Wenn diese Information wahr ist, was dann? Meine Theorie lautet wie folgt: Sie hatte Angst, allein mit ihm zu sein, isoliert, eingeschlossen in ein dunkles Schlafgemach unter den Klaviertasten. Sie schrie ihm etwas Schmutziges zu; immerhin zerschlug sie kein Porzellan. Er erwartete von ihr, dass sie sich veränderte , um sich seinem Begehren anzupassen! (Denke ich hierbei an Schostakowitsch oder an R. L. Karmen?) Schon zwei Mal hatte sie ihn deshalb verlassen; und dieses dritte Mal, als im Grunde er es war, der das Thema forcierte, verlangte er von ihr, dass sie ihre Erwartungen an ihn auf Notenpapier niederlegte; seinerseits notierte er seine Erwartungen an sie; er versprach, all ihre Erwartungen zu erfüllen, aber jetzt wollte sie nicht glauben, dass er das schaffen könne, und sie ihrerseits könne nicht leisten, was er verlange, nämlich ihm noch mehr von sich zu geben; sie hatte Angst, verzehrt zu werden; also hatten sie sich bei seinem letzten Besuch bei ihr gestritten und nicht miteinander geschlafen; und beim nächsten Mal, dem absolut allerletzten Mal, als sie ihn nach meinem ersten Attentat pflegte, hatte sie bei ihm geschlafen, aber nur an seiner Seite und voll bekleidet; sie hatte ihn umarmt, aber nie fest genug, um die Zugluft, die zwischen ihnen wehte, zum Stehen zu bringen, und als er sie anflehte, ihn fester zu halten, weigerte sie sich wütend, also mussten sie auf ewig voneinander scheiden; sie war es, die das Urteil verkündete, aber erst, als er sie darum bat; und dabei wäre sie vielleicht willens gewesen, so weiterzumachen – arme Elena! –, sie wollte ihn weder verlieren noch ihm wehtun; auf ihrem endlosen Weg die Treppe hinunter schluchzte sie in einem fort, und dicke Tränen schossen ihr über das Gesicht. Ich muss gestehen, dass ich sie gern getröstet hätte.
Aber vielleicht ist es so nie gewesen; vielleicht hat sie ihn nie verlassen.
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