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für immer verlassen hatte und vor deren Andenken eine fortdauernde und nach wie vor nicht ganz unerwiderte Liebe ihn mit erschütternder
Kraft bewahrt hatte. Und so langte die Frau, die auf ihm lag und ihn wieder und wieder auf den Mund küsste, verträumt nach seiner Kehle, wann immer ihr danach war, lächelte über sein Lächeln in dankbarer Vorfreude; dann legte sie ihm die weichen Hände gleich unter das Kinn und begann zu drücken, legato , dolce , den Blick absichtsvoll auf seine Augen gerichtet, wenn ihre Finger sich in sein Fleisch gruben und sein wüstes wertloses Leben in die Hand nahmen, das er so gern der dunkelhaarigen Frau zu Füßen gelegt hätte, es zu hegen oder darauf herumzutrampeln, ganz nach Belieben, wobei er das Hegen und das darauf Herumtrampeln mit der gleichen Begeisterung angenommen hätte, denn sie war es, die da handelte, und wenn sie ihn vernichtete, würde er ganz ihr gehören, während er, wenn sie ihn stattdessen für eine Weile auf die Höhe ihrer sternenglänzenden Augen erhob, bei vollem Bewusstsein entsprechend mehr Zeit mit ihr verbringen konnte. Was für ein Glück für dich, dass du mich nicht geheiratet hast, Elena. Ein roter Fleck begann sich zu drehen. Inzwischen stieß jemand, der ihm fremd war, unwillkürlich kehlige Laute aus, tiefer als die Laute, die er beim Orgasmus von sich gab, dabei rasselnd wie das Klappern zylindrischer Perlen, die einmal ein Halsband gebildet hatten; dieses Stakkato aus etwas unschönen, nicht wirklich fließenden Geräuschen, weder ein Husten noch ein Gurgeln, noch ein Klicken aus dem Metronom, wie er es musikalisch im dritten Satz des Opus 110 abbilden würde, schien ein guter Ersatz für das Atmen zu sein, das er nicht länger über sich bringen konnte oder wollte; er versank in einen herrlichen Schwindel, der ewig hätte währen können und es doch nie tat, und dann brach ihm jedes Mal das Herz, weil er merkte, dass er allein war, also ohne die dunkelhaarige Frau.
Er lag einsam im breiten, leeren Bett, die Hände eiskalt und Herz und Kehle eng vor Anspannung, weil er wartete, ob das schwarze Telefon läuten oder nie wieder läuten würde, bis ihm schließlich klar wurde, dass es nicht läuten würde, weil die dunkelhaarige Frau schon vor Stunden im Konservatorium fertig gewesen sein musste, und so wählte er ohne Angst vor jemandem in himbeerfarbenen Stiefeln, von dem anderen Mann, Vigodski, ganz zu schweigen, die Nummer; als der andere Mann abnahm, legte er auf; eine Stunde später rief er wieder an, diesmal glückte es ihm, ihre vom Schlaf heisere Stimme zu hören, ritenuto , der er entgegenkrächzte: Ich möchte dich so gerne hier in diesem Bett
auf mir liegen haben, Elena; ich brauche dich auf mir, du musst mich küssen und küssen und küssen …
Dann schaltete er das Licht aus und schmeckte Blut in seiner Kehle. Er drehte das Radio an, nur um, Sie wissen schon. Klawdija Schulschenko sang »Blaues Tüchlein«: Der Soldat am Maschinengewehr kämpft für das blaue Tüchlein, das diese lieben Schultern einst bedeckt. Er brachte sie zum Schweigen, nicht, dass sie nicht etwas gehabt hätte; es war nur, dass er, jedenfalls, das Leben ist eine Farce. Am Morgen darauf zog er ein Hemd mit hochgeschlossenem Kragen an, weil die lieben Finger der Frau ihm an seinem Hals blaue Flecken gemacht hatten, jenem Hals, der fast so makellos weiß gewesen war wie die Zähne der dunkelhaarigen Frau.
2
Im vergangenen Oktober, als sie sich drei Stunden vor der Uraufführung seiner 11. Sinfonie am Kaufhaus Jelissejew verabredet hatten, war Schnee gefallen, und sie waren beide zu spät gekommen. Sie hatte ihm die Krawatte zurechtgerückt, ganz wie eine Ehefrau. Er bat sie, ihn bitte ganz sacht zu verlassen, falls sie es jemals tun würde, worauf sie erwiderte, dass sie nicht mehr zusammen seien und es sowieso nie wieder sein würden. – Oh, du bist ja eine ganz Schlaue!, lachte er. Gib mir noch eine Englischstunde! – Dann überwand er seinen Schmerz und beharrte, mezzo piano, darauf, dass sie sehr wohl zusammen seien. Er wusste, was er wusste; wusste sie es denn nicht auch? Hatte sie nicht selbst zugegeben, dass sie manchmal schwieg, anstatt auszusprechen, was auch immer sie empfand? Immer wenn er nach Leningrad kam, und das war dieser Tage oft, weil es immer etwas Neues zu proben gab, sah sie ihn täglich oder doch beinahe täglich, und wenn sie ihm in dem Devisenlokal gegenübersaß, lächelte sie fast immer so zärtlich! Wie konnte sie das
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