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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Alle drei waren ordensgeschmückt. In taktvollem Abstand schritten hinter ihnen die Kolonnen mit den präsentierten Gewehren einher. Jetzt aber zackig! Im Stechschritt marschierte die Legion Condor voran, das Gewehr mit dem Bajonett gerade nach oben gerichtet, vorbei an einer Reihe von Trommlern in Stahlhelm und Uniform.
    2
    Sagen wir, ich bin ein Kirow aus Bronze, ein strammer Bursche in meiner Arbeiterjoppe, robust und mit Hut. Ältere Damen werden bei mir schwach. Meine Aufgaben sind so langweilig wie die Hunde, der Schnee, die Pferde Leningrads. Ich schlendere zwischen den Buchhändlern auf dem Newski-Prospekt herum und passe auf die Tore der Donau auf. Jeschow ruft mich auf dem großen schwarzen Telefon an: Schick mir ein paar kleine Ballerinen! Dafür bin ich nicht zuständig, aber ich werde es tun. Am Ende bin ich für alles zuständig.
    Haben Sie neutrale Staaten besucht? Ich nicht. Für mich gibt es keine neutralen Staaten. Deshalb wird das Hören von Auslandssendern in Leningrad bald als Schwerverbrechen gelten.
    Ich gab meinen Bericht über das Unternehmen Feuerzauber ab und ging nach Hause. Jeschows Ballerinen flüsterten mir schon was vom Unternehmen Barbarossa, aber es war noch nicht einmal der Fall Weiß eingeleitet worden; wir hatten noch unendlich viel Zeit. Die Zukunft existiert immer erst, wenn sie da ist.
    Ich lebe allein, absichtlich. Ich begehre nichts, als die Widersprüche des Kapitalismus zu verschärfen. – Sind Sie dumm genug, das zu glauben? – Was ich wirklich gern tue, ist der Roten Kapelle zu lauschen. Und wann immer man es mir aufträgt, fahre ich rüber, bei der Achmatowa horchen. Ich wette, Lydia Tschukowskaja ist heute Abend auch wieder da. Es hat sie noch niemand dabei erwischt; aber ich weiß, dass sie zwei Lesben sind. Wenn es nach mir ginge, würde man alle beide erschießen.
    Der demütige Sekretär auf seinem goldgetriebenen Thronsitz hatte die Tore der Donau geschlossen. Ich weiß, was ich weiß, also habe ich mich nicht eingemischt. Die Rote Kapelle sagt, der König werde zuerst
ein Abkommen mit uns unterzeichnen, damit er keinen Zweifrontenkrieg kämpfen müsse. Gut, das klingt logisch.
    Für den König gab es kein Durchkommen. Wir waren in Sicherheit. Sie-wissen-schon-wer würde ewig auf seinem goldgetriebenen Thronsitz herrschen.
    3
    Pjotr Alexejew, mit dem ich manchmal Drecksarbeit erledige, hat mir gestern einen guten Witz erzählt. Kommt ein Trupp Kolchosniks nach Moskau, der Dung auf ihren Schuhen ist noch nicht trocken; verstehen Sie; das sind Stoßarbeiter; Helden der Arbeit! Stellen Sie sich die wie Rodtschenkos abstrakte ausgeschnittene Papierfiguren vor, mit dunkler Ölfarbe bemalt und auf runde Holzständer montiert. Ihr Führer erklärt ihnen, dass sie jetzt in der Welthauptstadt des Fortschritts seien, des Überflusses, der Freiheit und so weiter! Schließlich tritt einer der Bauern schüchtern vor und sagt: Genosse Führer, gestern bin ich durch die ganze Stadt gelaufen und habe nichts davon gesehen! Der Führer hat genau die richtige Antwort parat: Du solltest weniger rumlaufen und mehr Zeitung lesen!
3
    Das sage ich mir auch. Er hat die Tore der Donau geschlossen, also ist alles gut. Es kommt mir nicht so vor, aber ich sollte weniger rumlaufen und mehr Zeitung lesen. Leider ist das Rumlaufen meine Aufgabe.
    Tuchatschewski erklärt Stalin, der nächste Krieg werde mit Panzern geführt. Sehr gut – experimentieren wir in Spanien mit Panzern. Sofort werden sechzig unserer Panzer von der Legion Condor erbeutet, vor allem mit Hilfe von Mohren, denen die Faschisten fünfhundert Peseten pro Kopf gezahlt haben.
4 Der Genosse Stalin weiß eine Antwort auf diese Provokation: Erschießt Tuchatschewski! Tuchatschewski hätte mehr Zeitung lesen sollen. Dann hätte er gewusst, dass Panzer nie eine Bedrohung darstellen würden. Und die Legion Condor rückt im Stechschritt vor.
    Ich hebe den Hörer des großen schwarzen Telefons ab. Besser, man hört mit, meine Lieben! Die Tschukowskaja sagt in diesem seltsam spitzbübischen Ton, den sie jedes Mal annimmt, wenn sie die Achmatowa beeinflussen will: Wie feucht, dunkel, trist es in den Straßen jetzt ist …
    Ich denke: Wenn Sie wüssten, Lydia Kornejewa!
    Die Achmatowa sagt: Leningrad ist überhaupt für Katastrophen ungewöhnlich geeignet …
    Ich denke bei mir: So ein Schwachsinn! Es beleidigt mich, dass man so einen Menschen je gedruckt hat.
    Die Achmatowa redet weiter: Dieser kalte Fluss, diese bedrohlichen

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