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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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zurückkam.
    Danach hatte er keine Verteidigungsstellungen mehr. Er versuchte, sich so platt wie eine Küchenschabe zu machen, um sich zwischen den Klaviertasten zu verstecken, aber sie packten ihn, bis seine Finger anfingen, blass zu zittern, genau wie jene Tänzerinnen im Operettentheater in Leningrad damals anno 41; ach je, er würde nie vergessen, wie während der Proben ein paar von ihnen mitten auf der Bühne tot umgefallen waren, vor (wie soll ich sagen?) Hunger. Er bibberte und zitterte, bibberte und wurde beinahe mürbe; dann lag er auf dem Sofa, und sie beugten sich über ihn. Als er ausgenüchtert war, lag da ein Antrag auf Aufnahme in die Kommunistische Partei mit seiner Unterschrift.
    Er brach zusammen. Wäre Ninotschka mit ihrer ungehobelten Art noch am Leben gewesen, sie hätte sie abgewimmelt. Lebedinski hätte die Tür verbarrikadiert!
    Er stieg in den Mitternachtszug von Moskau nach Leningrad, den »Roten Pfeil«, und glaubte wie ein Kind, diese Kriegslist würde ihn vor ihnen schützen; Maxim und Galja waren alt genug und konnten auf sich selbst aufpassen; er würde nie wieder nach Moskau zurückkehren! Und so raste er tiefer ins Dunkel und scherzte bei sich: Alle Züge fahren nach Auschwitz!
    Irina hätte ihm Gesellschaft geleistet, wenn er sie darum gebeten hätte; sie war bereit, ihren Mann zu verlassen, der offenbar sehr, wie soll ich sagen. Aber in diesem Augenblick, falls es ihm nicht gelingen sollte, der Partei gegenüber fest zu bleiben, war der Gedanke, wie sie ihn aus ihren geradezu übernatürlich ausdrucksvollen, hyperintelligenten Augen anstarren würde, nun … – Lebedinski und Glikmann warteten auf dem Bahnsteig auf ihn. Sie versprachen, ihn zu verstecken, damit er die Synode in Moskau verpassen konnte. Er sei krank, wollten sie überall herumerzählen. Sie würden für ihn bei der Partei anrufen. Aber das bedeutete nur einen Aufschub.
    32
    Sein Eintritt in die Partei sei der persönliche Wunsch des Genossen Chruschtschow, sagten sie. Man habe viel verändert. Er werde schon sehen, die Partei sei heutzutage sehr nett, geradezu herzig.
    Er stürzte davon in die Wohnung seiner Schwester Marija und versteckte sich. Vielleicht fanden sie ihn dort nicht: Sie würden es im Ewropejskaja Hotel versuchen. (Das Schlimmste war: Was würde Elena sagen?)
    War er einmal in der Partei, hatten sie erklärt, wäre für ihn der Weg an die Spitze des Russischen Komponistenverbandes frei.
    Marija setzte ihn an ihren Küchentisch und brachte ihm eine große Schüssel Suppe. Sie kannte sich sehr gut mit diesen Arschlöchern aus. Sie war es gewesen, die sie einst nach der Affäre Tuchatschewski nach Zentralasien ins Exil geschickt hatten. Diese Erfahrung mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass Elena und sie Freundinnen geblieben waren; die beiden fühlten sich einander verbunden; o ja.
    Freut sie sich wirklich so sehr, mich zu sehen, wie sie tut?, fragte er sich. Oder tut sie nur aus Mitleid so? Meine eigene Schwester, und doch bin ich so … Und jetzt wird das Telefon läuten. Ich, ich, dieses Gefühl, als würde sie mich nur aus der Ferne betrachten, aus weiter Ferne. Ich kann nur, ich hätte ihr ein Geschenk mitbringen sollen! Nicht einmal daran habe ich denken können. Ich bin wirklich zu nichts nütze! Warum erschießen sie mich nicht einfach? Wie viele Jahre habe ich nun schon den Koffer mit der frischen Unterwäsche stehen? Vielleicht ist sie schon von Motten zerfressen. Oje, ach ja, sieh nur, wie alt Marijuscha aussieht! Und was, wenn ich hier nicht willkommen bin? Ob ihr Klavier wohl gestimmt ist? Es liegt ein wenig Staub darauf. Ich sei zu stolz, hat sie mir immer gesagt. Morgen gehe ich besser wieder zu den Glikmanns. Vera Wassiljewna lächelt immer so nett, wenn ich esse, was sie gekocht hat. Er kann sich glücklich schätzen, dass er sie geheiratet hat! Wenn sie doch Augen für mich gehabt hätte, dann hätte ich vielleicht … – Egal! – Lebedinski hätte gesagt … Ich bin vielleicht stolz, aber ich würde alles darum geben, wenn ich mich in Glikmann verwandeln könnte und nicht mehr denken müsste! Ich verachte ihn, ich kann nicht anders, weil er mich liebt. Hier bei Marijuscha bin ich nichts als eine, eine, nun ja, eine Zumutung. Ich wage nicht, sie nach Elena zu fragen. Wie sehr ich mir wünsche, tief unter der Erde zu liegen, tief unter der Erde, dum di dum di dum , unter Bergen von schwarzem Dreck, da
mit ich, damit ich nichts mehr hören kann! Ich sollte heute Abend

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