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war mir das schon mehr oder weniger klar, aber nur in groben Zügen. Also Ohren spitzen, sagte ich mir, denn hier spricht der Feldmarschall Erich von Manstein! Er würde mich lehren, die Pfeile auf den Karten zu verstehen, die Speerspitzen, die langen gepunkteten Linien, die goldbarrenförmigen Rechtecke unserer Heeresgruppen! Ich war wieder dabei und raste durch all die neuen Staaten, die in Verlorene Siege praktisch auf jeder Seite entstanden, mit ihren Reichskommissaren, die der Schlafwandler persönlich vorherbestimmt hatte, während die Wehrmacht weiter auf dem Vormarsch war, wobei ihr Operationsgebiet idealerweise (Sie sehen, ich verstehe die Theorie dahinter wirklich) nicht viel tiefer sein sollte als die Front selbst, um Behinderungen unserer »Sonderkommandos« in den rückwärtigen Gebieten zu vermeiden, und von denen wollen wir lieber schweigen, das ist geheim; was ich hier vermit
teln möchte, ist, dass Deutschland in Verlorene Siege wieder auf dem Vormarsch war, und je weiter wir kamen, desto stärker wurden wir, bis wir Riesen in einem Land der Träume waren. Ich bin Realist, aber warum darf ich nicht zurück in die Vergangenheit reisen, besonders wenn sie mir so süß scheint wie der Duft nach gebranntem Zucker, der aufstieg, als unsere Bomber die Badajewski-Lagerhäuser in Leningrad angriffen? Über Leningrad sagt von Manstein (und ich bin ganz seiner Meinung), dass wir den Ort anno 41 mit etwas größerem Druck hätten einnehmen können, aber der Schlafwandler hat uns nicht gelassen; er wollte gleichzeitig Moskau haben, und deshalb bekam er keins von beidem. (Im Rückblick war er wohl doch – nett gesagt – ein wenig blauäugig.) Anno 42 wagten wir einen weiteren Vorstoß, aber als wir die ersten Fortschritte machten, griff uns Wlassows 2. Stoßarmee an, dann wurden Truppen in den Kaukasus umgeleitet; und als von Manstein diesen Saustall wieder aufgeräumt hatte, geriet Paulus in Stalingrad in Schwierigkeiten! Da sehen Sie mal, es war einfach nur Pech, dass wir nie in Leningrad einmarschiert sind. Gebrannter Zucker! Diesen köstlichen Duft vergesse ich nie. Als hätten sich alle Zuckerbäcker Russlands zugleich an die Arbeit gemacht und uns eine Siegestorte gebacken, groß wie ein Berg; die Glasur war schon fertig; karamellisierten Zucker habe ich schon immer gemocht.
Feldmarschall von Manstein schließt das erste Kapitel seiner Memoiren: Es konnte kein Zweifel mehr herrschen, daß nunmehr die Waffen sprechen würden.
7 Bald würden wir die Stalin-Linie durchbrechen. Endlich würden wir Leningrad einnehmen. Und von Manstein würde dabei sein! Er würde seinen Marschallstab heben und Deutschland sagen. Sofort würde ein ewiger Sommer anbrechen.
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In unserem offenen Käfig in Workuta, immer mit den Mützen auf den Köpfen und unseren Fußwickeln und allem, was wir auftreiben konnten, gegen die Kälte um die Gesichter geschlagen, bis wir wie russische Babuschkas aussahen, nun, da vertrieben manche von uns sich die Zeit mit Gesprächen über Politik, fast nie über die Liebe, denn das wäre nicht zu ertragen gewesen; uns war, als könnten wir schon das schmierige Grinsen auf den Gesichtern der arischen Mädchen se
hen, für die wir alles gegeben hatten; jetzt trieben sie es für ein bisschen Schokolade mit amerikanischen Soldaten; als ich heimkehrte und sah, wie sie den Männern zuzwinkerten, die Dresden niedergebrannt hatten, hätte ich ihnen fast Saures gegeben, das kann ich Ihnen sagen! Und so traurig und missmutig die meisten von uns in Workuta waren, die Frauenhelden waren am Schlimmsten dran. Du kannst »Lili Marleen« summen wie blöd; du kannst von dieser oder jener Dame träumen, bis dir das Gesicht blau anläuft wie bei einem gehängten Partisanen, du bist noch immer hier, und sie ist noch immer dort , auf der anderen Seite des Stacheldrahts; aber eine Theorie oder eine Meinung kann man im Gulag sehr wohl entwickeln, und gerade weil Meinungen einem dort, ehrlich gesagt, weniger real vorkommen als zu Hause, in der Kaserne oder selbst beim Vormarsch, warum nicht das Beste daraus machen? Stirnlampen im vordersten Schützengraben, wie ich immer sage! Genauso gut kannst du in Jubelkonvois durch den Staub der Steppe rasen, bis hinter den Horizont, und auf dem ganzen Weg über die Ebenen des Sommers erfreut dich das Grollen der Panzerketten; wenn du das einmal gehört hast, wirst du immer mehr davon wollen. In so einer Stimmung lässt sich herrlich diskutieren – zum Beispiel die Frage: War
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