Eva Indra
Auf der einen Seite gingen ihm ihre eindringlichen Fragen zwar auf die Nerven, aber auf der anderen Seite hieß er sie willkommen. Sie forderten ihn heraus und führten ihm deutlich vor Augen, dass es an der Zeit war, Vergangenes aufzuarbeiten.
„Diese Antipathie war wohl gegenseitig, denn ich wusste überhaupt nicht, dass er einen Sohn hatte. Er hat nie etwas von dir erwähnt“, sagte Anna, nachdem er eine zeitlang geschwiegen hatte.
„Ja, das kann gut sein“, antwortete er fast melancholisch. Eine immense Traurigkeit durchströmte ihn, paarte sich mit einer schier unermesslichen Wut. Raus! Er musste raus aus diesem Raum! Nichts als ins Freie. Flüchten vor all’ diesen Fragen, die ihm viel zu nahe gingen. Er schloss das Schließfach und eilte zur Türe. Die klare Luft
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Eva Indra Bis aufs Blut
brachte ihn wohltuend in die Realität zurück. Er wischte seine verkorkste Kindheit beiseite und zwang sich an die nächsten Schritte zu denken. Prag, drei Stunden hatte sie gesagt. Na gut, dann fuhr er eben nach Prag, darauf würde es jetzt auch nicht mehr ankommen. Bei diesem Vazlev würde er das Buch loswerden und damit auch seine Schulden. Und irgendwie würde er auch zurück nach L.A. kommen. Und dann...? ging es ihm durch den Kopf. Würde er dann wieder spielen, wieder verlieren, wieder neue Schulden anhäufen, die ihn um Kopf und Kragen bringen würden? So ungern er es sich eingestand, aber es war sehr wahrscheinlich. Und dann würde es kein Buch mehr geben, das man aus einer Villa irgendwo auf der Welt stehlen könnte, um sich selbst freizukaufen. Vielleicht sollte er wirklich endlich einmal versuchen, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Aber zuerst musste er nach Prag. Jetzt hatte er endlich dieses Buch. So lebenswichtig Annas Gegenwart für ihn bis zu diesem Moment gewesen war, denn sie war der einzige Schlüssel zu dem Buch gewesen, genauso überflüssig war sie jetzt. Sie war ihm regelrecht im Weg, behinderte, hielt ihn auf. Sex wäre das Einzige, das sie ihm jetzt noch geben könnte, log er sich selbst an. Aber dafür brauchte er sie nicht. An willigen Frauen hatte es ihm nie gemangelt. In L.A. nicht, in Nevada nicht und auch hier in Wien nicht, wie er vor einer Stunde erfahren hatte. Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht und er lief los.
Das Kapitel Anna war abgeschlossen.
„Alex! Warte! Du nimmst mich doch mit, oder? Ich weiß nämlich nicht...“
„Nein, Anna, es tut mir leid, aber unsere Wege trennen sich hier“
Wer hatte das gesagt? War er das gewesen? Der Satz hatte seinen eigenen Mund verlassen, aber er kam bei seinen Ohren als groteske Aussage eines Fremden an. Und es schnürte ihm die Brust zu, als er ihn hörte. Bloß nichts anmerken lassen...
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Eva Indra Bis aufs Blut
Kapitel 16
Anna konnte es noch gar nicht glauben, aber sie saß tatsächlich neben Alex in Lisas rostigem Käfer, der sich schleppend über die Südosttangente Richtung Prag fortbewegte. Wie war es nur dazu gekommen?
Kaum aus dem Schließfachraum, war Anna auf Lisa zugestürzt und hatte sich blindlings in ihre Arme fallen lassen. Es war ein dramatischer Auftritt gewesen, denn es fehlte Anna wieder mal nicht an Tränen. Zwei bildhübsche Frauen engumschlungen in einem Wiener Postamt konnten nur für Aufregung sorgen. Das heißt eigentlich, ein Getümmel herrschte nicht, sondern ein eigentümliches Stillschweigen. Offne Männermünder waren zu beobachten, mitleidige als auch neidische Blicke von Frauen und Sensationslustige rückten näher, um mehr in Erfahrung zu bringen.
„Was ist passiert? Anna! Sag schon! Hat er dir was getan? Anna! Sag mir doch bitte endlich...“, fragte Lisa bestürzt.
Anna schüttelte wild verneinend den Kopf und zog das Wasser in der Nase hoch. Warum heulte sie eigentlich? Sie versuchte sich zu konzentrieren. Viel zu viel war vorgefallen, in zu viele Lügen hatte sie sich bereits verstrickt, so viele, dass sie Schwierigkeiten hatte, Lisa konkret zu antworten. Wie sollte sie nur anfangen? „Was hast du mit ihr gemacht?“, maulte Lisa Alex an, weil ihr Anna bisher immer noch keine Antwort gegeben hat. Alex zuckte unwissend mit den Schultern und verließ unbeeindruckt von der Szenerie das Postamt.
Anna wischte sich die Tränen aus den Augen, schneuzte sich einmal kräftig in das Taschentuch, das ihr Lisa gegeben hatte und blickte ins Freie. Wohin wollte er? Was hatte er jetzt vor?
„Wie müssen ihm nachgehen!“, sagte Anna und hatte sich mit einmal wieder voll im
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